Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
Kellner knallt mir ein überschwappendes, dünnes Fischcurry auf die fleckige Tischdecke. New Years Party. Disco after 10 p. m. Rooftop Restaurant. 2200 Rupees steht auf einem Schild am aufgeplatzten Furnier des Restauranttresens. Fast hätte ich den Feiertag vergessen. Ich frage nach Bier. Der Ober winkt ab. »Bedaure Sir, Alkohol gibt es nur an der Bar«, sagt er. Ich bestelle eine Cola und beobachte einen extrovertierten Einheimischen am Nachbartisch, der einen Kellner nötigt, mit ihm Kaffee zu trinken, während er am Handy in affektiertem Englisch mit einer Werkstatt über den Tarif für eine Autoreparatur verhandelt. »Nein, der Kühler ist kaputt. Der Kühler!«, ruft er immer wieder, wirft mir dabei verschwörerische Blicke zu und verhunzt das englische Wort radiator zu einem red jitter : ein verbales silvesterliches rotes Flackern sozusagen.
Den letzten Abend vor meiner Abreise habe ich mir freudiger vorgestellt. Plötzlich überkommen mich Zweifel an meinem Plan. Habe ich für solche kaputten Szenen alle Warnungen in den Wind geschlagen, mich an einem warmen norddeutschen
Dezembermorgen allein aus dem Haus geschlichen, um die Kinder nicht zu wecken, als wäre ich zwanzig Jahre jünger? Um einsam in einem heruntergekommenen Hotel zu hocken, dort, wo Indien steil ins Meer kippt, und ohne Grund zu feiern, obwohl Silvester ist? Ich habe keine Ahnung, was mir auf meiner Reise bevorsteht, denke ich. Ich weiß nicht einmal, ob es möglich ist, in den Tropen zu wandern.
Ich lege dem Ober ein viel zu hohes Trinkgeld in die klebrige Mappe und laufe zurück ins Vivekananda Centre. In meinem Zimmer trinke ich heimlich den aus Deutschland mitgebrachten Flachmann in zwei Doppelzügen leer, liege in der Dunkelheit und lausche. Dem Scheppern der Töpfe aus der Restaurantküche gegenüber, dem Kichern der Mädchen, dem Schreien der Kleinkinder, den strengen Rufen der Familienväter. Und dem tropischen Seewind, der ständig seine Richtung wechselt. Morgen beginnt die Reise meines Lebens.
Im Land der Windmühlen
Die ersten Schritte in den Wanderstiefeln sind verdächtig weich. Meine Knie fühlen sich in der warmen Nachtluft an, als wären sie aus Butter, die Fußsohlen, als würde ich auf Watte gehen. Am Ausgang der Wohnanlage steht ein Mann in einem Wachhäuschen. Als ich den Weg nach Norden einschlage, springt er aus der Bude und schreit. Er gestikuliert und winkt. Ich drehe mich um. Der Wächter zeigt in die Stadt hinab, Richtung Kap. »Die Busse fahren dort unten«, ruft er. »Danke«, rufe ich zurück. »Ich gehe zu Fuß.« Er schüttelt wortlos den Kopf und blickt mir lange nach.
Am frühen Morgen ist kein Mensch auf der Hauptstraße von Kanyakumari zu sehen. Vor den Geschäften sind Rolltore aus Blech heruntergelassen. Mitten auf der dunklen Fahrbahn kokeln Müllhaufen. Fast stolpere ich über eine Gestalt, die am Straßenrand kauert, ein menschlicher Schatten, der sich nur heiser grunzend zur Seite wälzt. Auf dem weichen Asphaltstreifen tauche ich in die Finsternis jenseits der Stadt; mal windet er sich durch offenes Land, dann sticht er schnurgerade durch dichte Wände aus raschelnden Palmen. Ein böiger Nordwind wirbelt überdrehten Tamil-Pop durch die Nacht. Die Musik quäkt von Bauernhäusern, deren Höfe leblos weiß und weithin sichtbar im Neonlicht strahlen, und aus Kokoshainen, in denen die Lautsprecher zwischen Glühbirnenketten an den Baumstämmen hängen. Aggressiv justierte Lkw-Scheinwerfer blenden meine Augen. Fahrradfahrer gleiten lautlos an mir
vorbei. Hundemeuten erscheinen aus dem Nichts, kläffen und verschwinden wieder. Auf den ersten Kilometern meiner Reise fühle ich mich transparent. Wie ein Gespenst, das auf sanften Sohlen durch die dicke tropische Luft wandelt.
Dann erhebt sich Indien schlagartig aus der Dunkelheit. Das Morgenlicht tüncht die steilen Berge im Westen in ein kitschiges Rosa, davor erheben sich einzelne, unwirklich aussehende Felsen. Ich erkenne, wie fruchtbar die Ebene ist. Ein System von Teichen und Kanälen durchsetzt die Kokosplantagen. Zwischen Reisstauden stochern Scharen möwengroßer weißer Vögel im Matsch. Die kleinen Dörfer verstecken ihre Schönheit vor dem wandernden Fremden. An den Straßenfronten wenden sie mir hässliche Fassaden aus Wellblech und Beton zu, aber in den Seitengassen besprenkeln dralle Hausfrauen mit glänzend nassen Haaren den gestampften Boden vor schmucken blauroten Lehmhütten. Mit Kreide zeichnen sie bunte Ornamente vor die
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