Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
Bäche plätschern durch steinige Weideflächen.
Am Mittag verschwindet die Ebene von Dehra Dun im Dunst. Die Luft wird dünn, mein Atem kürzer. Renuka hat mir eine grobe Beschreibung zu Everests ehemaligem Anwesen mitgegeben, etwa zehn Kilometer unterhalb von Mussoorie muss ich links abbiegen. Ich frage eine Gruppe Soldaten, die ihre Waffen und Schlafsäcke neben einer Felswand ausgebreitet haben, nach dem Weg. Ich wende mich an einen mürrischen Mann, der an der Hauswand eines Dorfes mit nur drei Häusern sitzt und friert. Ich erkundige mich bei einem Milchhändler mit Hasenzähnen, der seine Metallbehälter am Rücken eines Pferdes befestigt. Aber mit dem Namen Everest
kann auch er nichts anfangen. Erst als ich nach dem »Haus des Ausländers« frage, weist er mich in eine Seitenstraße, die in einen dichten Tannenwald führt.
Der Weg windet sich über einen Berggrat nach Westen. Erster Rhododendron taucht auf. Leuchtend rot steht er in Blüte. Typisch britisch, denke ich. Obwohl er gar nicht britisch ist. Dicke Tannenzapfen liegen auf der Straße; sie verjüngt sich zu einer Sandpiste und endet nach rund einer Stunde Wanderung in einem Dorf. Die Hütten sind mit schwarzer Folie und Knüppeln gedeckt. In die Bäume ringsum sind Strohballen zum Trocknen gehängt. Der Wind rauscht in den Tannen.
Ein Pfad führt oberhalb des Dorfes auf eine Hügelkuppe. Niedrige Büsche wachsen in dem vertrockneten Gras. Es ist fast still. Wespen summen. Irgendwo im Tal höre ich Kinder rufen. Im Wald unter mir schlägt jemand Holz. Aber kein Mensch ist zu sehen. Nach Wochen in der lärmenden indischen Ebene fühle ich mich, als wanderte ich durch ein Vakuum, während meine Knie vor Sauerstoffmangel zu zittern beginnen.
Ich steige über einen Stacheldrahtzaun. This property belongs to Rahul Niwas steht auf einem Schild. Hinter einer letzten Kuppe stehe ich auf einem kahlen Sattel. Zu meinen Füßen liegt das Haus George Everests, ein weißes, lang gezogenes, eingeschossiges Gebäude. Darüber thronen die riesigen, schneebedeckten Berge des Himalaya. Blau und kalt wirken die Gipfel. Zentralasiatisch. Unerreichbar und dennoch zum Greifen nah. Als wären es ferne Himmelskörper.
Vor dem Haus drehen drei Jugendliche mit Jeans und Lederjacken auf zwei Motorrädern ihre Runden. Das Bauwerk ist in einem miserablen Zustand. Der Boden ist bedeckt mit Kuhmist und Glasscherben, mit vertrockneten Essensresten und verkohltem Holz. Die Fenster sind herausgebrochen, die Wände bekritzelt mit liebestollen Graffitis wie »Samjay liebt
Anita«. Aber die massiven Mauern haben die vergangen zweihundert Jahre erstaunlich gut überstanden. In jedem Zimmer finden sich noch die Kamine in den vier Meter hohen Wänden. Stuck mit feinen Ornamenten ziert die Decke eines riesigen, kreisrunden Saales mit bodentiefen Fenstern.
1841 hat George Everest die 700-Kilometer-Lücke zwischen Sironj in Zentralindien und Dehra Dun im Norden geschlossen und damit die subkontinentale Meridiangradmessung seines Vorgängers William Lambton vollendet. Ich stelle mir vor, wie er hier steht, den Stift an den Lippen und in den Seiten seiner Notizbücher, die Hand an kostbaren Messgeräten. Den Adlerblick auf die Berge hinter der Veranda gerichtet. Wie er mit langen Rechnungsreihen die Breitengrade von Sironj und Dehra Dun ermittelt, exakt, bis auf drei Stellen hinter dem Komma. Wie er triumphierend kalkuliert, dass der Radius des Äquators mit fast 6400 Kilometer Länge exakt 20,5 Kilometer mehr misst als der der nördlichen Hemisphäre. Zwar hat Everest an der Vermessung des Himalaya nicht mehr direkten Anteil, doch ist er es, der dafür die präzise Basis geliefert hat. Und dessen Namen fünfzehn Jahre später der höchste Berg der Welt tragen wird.
Von seinem Anwesen in Hathipaon aus kann Everest die Peripherie des Subkontinents ausmachen, die Grenze des indischen Staatsgebietes und des damaligen britischen Machtbereichs. Wie stolz dieser herrische Wissenschaftler gewesen sein muss. Und wie einsam.
Ich verbringe die letzte Nacht meiner Reise unterhalb des Hauses in einem Zelthotel neben dem Hüttendorf. Der Besitzer ist ein hünenhafter, kahl geschorener Brahmane in orangefarbenem Gewand. Er trägt klassische Holzlatschen, ohne Leder
gefertigt, ein Holzstück hält sie neben dem großem Zeh fest. Bis in den Morgen hinein wache ich immer wieder zwischen den flatternden Zeltwänden meiner Einzelunterkunft auf.
Bei einem Frühstück aus frittiertem Fladenbrot
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