Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
auftauchen, haben wir ein Problem.«
Ich empfinde eine Mischung aus Scham und Stolz, als ich mich durch die anachronistische Menschentraube rund um den Tresen zurückkämpfe. Die indischen Besucher dürften dieses Maß an Gastfreundschaft sicher nicht genießen.
Außerdem hat eigentlich niemand so richtig Anspruch auf ein Zimmer im Vivekananda Centre. Es ist kein Hotel, nicht einmal eine Appartementanlage, eher eine Art spirituelles Ferienheim zu Ehren des namengebenden Heiligen Vivekananda, der hier, auf dem südlichsten Zipfel des Subkontinents, die Erleuchtung fand. Die zweistöckigen Wohnkomplexe sind Neubauten, ganz anders als das Empfangsgebäude. Sie erheben sich zwischen Kokospalmen aus der Mitte einer gepflegten Parkanlage. Die Marmorböden ihrer Flure glänzen frisch gewienert, die Zimmer haben keine Klimaanlage, aber ein ausgefeiltes und ökologisch korrektes, verwinkeltes Fenstersystem, das die Luft wie eine Turbine quer durch den Raum
saugt. Die Vorschriften im Vivekananda Centre sind präzise, wenn auch nicht immer einleuchtend. »Kein Alkohol«, »Kein Spucken« und »Es darf nur im Badezimmer geduscht werden, an keinem anderen Ort«.
Ich schlendere zum Sunset Point hinunter, von dem aus man angeblich die Sonne sowohl im Arabischen Meer unter- als auch im Golf von Bengalen aufgehen sehen kann, und beobachte die Besucher. Aus dem ganzen Land sind sie hierhergekommen, die meisten zum Neujahrsurlaub: Familien aus Delhi und Mumbai, Senioren aus Kalkutta und Hyderabad, junge Paare aus Bangalore. Auf asphaltierten Straßen und gestampften Sandwegen flanieren sie zwischen sorgsam geschorenen Hecken und Rasenflächen. Ich umrunde im Uhrzeigersinn das Grabmal von Shri Eknath Ji Ranade, dem Gründer der Anlage, und verbeuge mich im Inneren des kleinen Mausoleums. Am Sunset Point blicke ich auf das schwarzblaue Meer und auf eine dicke Natursteinmauer mit der Aufschrift Do not cross , die den Zutritt zum feinen, nicht ganz weißen Strand versperrt. Dies ist ganz sicher nur der Golf von Bengalen, das eigentliche Kap kann ich weiter südlich erspähen. Die Sonne sackt tief in den diesigen Tropenhimmel, aber ihren Untergang könnte man von hier aus nicht beobachten.
Auf dem Rückweg in die Wohnanlage plaudere ich mit einem rundlichen Staatsbeamten aus Delhi, der unentwegt auf seinen etwa zehnjährigen Sohn einredet. Wir unterhalten uns auf Hindi, einer nordindischen Sprache, die ich mittlerweile, im Unterschied zu den südindischen Idiomen, recht ordentlich beherrsche. »Ich erkläre meinem Sohn die Bedeutung des Guru, des spirituellen Meisters«, sagt er. Der Mann kennt sich aus mit Religion, denke ich. Bestimmt auch mit dem Heiligen Vivekananda. »Ich weiß kaum etwas über den
Swami«, sage ich. »Nur dass er ein Anhänger des Vedanta war, Sie wissen schon, jener Lehre, nach der eigentlich alles eins ist: die Weltseele und die individuelle Seele. Alles. Eine äußerst faszinierender Vorstellung, finde ich.« Aber der nordindische Amtmann blickt mich ausdruckslos an, neutral und durchdringend zugleich. Dann schüttet er einen Redeschwall über mir aus: über Mantras und Karma, über Wiedergeburt und die Bhagavadgita, eine der zentralen Schriften des Hinduismus. Mit voller Absicht plappert er genau an mir vorbei, während sein Sohn auf dem Weg zurück zu den Appartements mit unregelmäßigen Sprüngen versucht, nicht die Risse im aufgesprungenen Boden zu berühren. Er hat keine Ahnung von der metaphysischen Dimension der Lehren Vivekanandas, vermute ich. Indiens Spiritualität hat so viele Schichten wie das Land Götter und Sprachen.
In dem streng vegetarischen Restaurant der Wohnanlage erstehe ich bei einem dauerlächelnden Hünen hinter einem Metallgitter einen Essenscoupon, der an alte deutsche Straßenbahntickets erinnert. Ich bestelle drei Porotta, fetttriefende Fladenbrote. Dazu gibt es ein Gemüsecurry, ein wenig Büffeljoghurt, der in Wasser schwimmt, und Linsensuppe satt, aufgekellt von zwei Schürzen tragenden Jungen aus gewaltigen Alutöpfen. Die Tischreihen sind mit abgewetztem, dunkelbraunem Laminat belegt, die hohen Wände halbhoch gekachelt. An den Längsseiten des Speisesaals waschen sich die Besucher vor und nach dem Essen die Hände an Reihen leckender, bronzener Wasserhähne. Über dem Kassierer, wie an fast jeder anderen senkrechten Innenfläche der Anlage, hängt ein Dutzend Bilder von Swami Vivekananda. In Goldrahmen, mit Kettchen aus bunten Lichtern versehen, von Kunstblumen
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