Indigo (German Edition)
ein.
– Wir haben, sagte er und deutete mit dem Finger zur Decke der Wirtsstube, wir haben in den letzten Jahren, ja, im Grunde in den letzten Jahrzehnten einem ganz furchtbaren Prozess zusehen müssen, einem Skandal, der furchtbar, wirklich furchtbar ist … nämlich dem allmählichen Wegsterben aller Glühbirnen. Und diese eine, die bei mir zu Hause in der Bibliothek hängt, ist die letzte, die ich besitze. Niemand weiß, wie lange sie noch durchhalten wird. Ich meine, gut, ihr Licht ist immer noch stark und unverfälscht, sie selbst hält sich bestimmt für unsterblich.
Er hustete. Laut und rasselnd. Er hielt sich einen Ärmel vor den Mund. Sein Gesicht lief rot an.
– Einmal, fuhr er fort, an einem Wintertag vor zirka zweieinhalbJahren, da hat sie ein wenig zu flackern begonnen … und ich hab schon mit dem Schlimmsten gerechnet, mein Gott, ich hab mich gar nicht mehr getraut, das Licht einzuschalten, bin einfach im Dunklen gesessen, mehrere Tage lang. Aber es war nur ein Wackelkontakt, und ich habe den Fehler behoben, indem ich die Birne einfach fester in ihre Fassung geschraubt habe.
Der Lehrer lachte und nahm seine Brille ab, um sie zu putzen.
Robert fragte:
– Wann genau sind Sie in Brüssel gewesen?
– Mein Gott, sagte Herr Setz, was sind das für schöne und trostspendende Erfindungen gewesen, diese kleinen magischen Birnen! Heute hängen überall die energiesparenden und wie zur Verhöhnung aller Älteren schnullerförmigen Lampen mit ihrem leidenschaftslosen, harten, krankenzimmerweißen Licht! Oder diese blöden blinzelnden Augen. Lächerlich. Wissen Sie, in meiner Jugend, da war es noch möglich und vorstellbar, dass ein einsamer Mann in einem schlechtgelüfteten Zimmer seine Verstörung einer nackten Glühbirne anvertrauen konnte, die strahlend hell am Ende der schmucklos aus der Decke ragenden Stromleitung hing. Und wenn er das Fenster aufmachte, dann pendelte sie hin und her … so …
Er machte es vor.
Robert seufzte lautlos. Das hier war kein Gespräch.
– Ihr Licht hat alles in eine dunkelgolden urbane Melancholie getaucht, ein entfernter atheistischer, wenn man so will, hahaha, ja, ein atheistischer Verwandter von de Chiricos safranfarbenem Ewigkeitslicht italienischer Plätze und Statuen, diese Bilder kennen Sie bestimmt, oder? Sie sind doch vom Fach, nicht?
Robert nickte.
– Auch wenn das Licht dabei auf Pizzareste in einem Karton voller sternförmiger Pizzaroller-Kratzspuren gefallen ist oder auf eine Sammlung leerer Whiskeyflaschen neben einem ständig kalten Heizkörper oder auf ein paar bis auf den letzten Rest ausgekratzte Schachteln Tiefkühlschokoladentorte. Hm … ja …
– Herr Setz?
Der Lehrer neigte seinen Kopf etwas zur Seite, aber es war nicht ganz klar, ob er die Frage gehört hatte. Robert überlegte, an welcher Stelle seines merkwürdig unproportionierten Körpers er ihn berühren sollte. Vielleicht würde er ja laut zu schreien beginnen, jetzt gleich –
– Kein Elend dieser Welt, sagte Herr Setz, war einer echten Glühbirne zu groß, kein Schauspiel zu unwürdig, sie hat ausnahmslos alles begossen, hat ihm Widerschein und Schattenwurf gegeben, sie stand in Verbindung mit ihrer Umwelt wie heute fast nichts mehr, dieser kleine, schwebende, wärmespendende Ball aus Energie mitten im Raum.
Standen Tränen in den Augen des verrückten Lehrers? Robert versuchte, genauer hinzusehen, aber Setz wandte sein Gesicht ab.
– Dagegen sind diese neuen Lampen, von denen jedes Jahr angeblich eine verbesserte Generation auf den Markt kommt, von einer geradezu absurden Gleichgültigkeit. (Er schnäuzte sich geräuschvoll in ein Stofftaschentuch.) Ihr Licht befasst sich mit absolut nichts! Weder mit uns noch mit anderen Oberflächen, noch mit den Schatten, die es verursacht. Sie sind ahnungslos und ohne Anteilnahme. Schlecht erzogene, unmenschliche Roboter! Wie wird sich die Seele der Menschen verändern, wenn in den Lampen der Zukunft kein Leuchtfaden mehr zu sehen sein wird? Bald wird die letzte klassische Glühbirnenform in meiner Umgebung der Kopf dieses furchtbaren Mannes sein, dessen gerahmtes Porträt über meinem Schreibtisch hängt!
– Herr Setz, ich würde gerne wissen, in dieser Mappe, die Sie mir gegeben haben –
– Wissen Sie, besonders traurig war ich vor Kurzem über die Meldung, dass jene Glühbirne, die seit 1901 ohne Unterbrechung geleuchtet hat, gestorben ist. Sie war, glaube ich, in einer Feuerwache in Kalifornien
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