Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Indigo (German Edition)

Indigo (German Edition)

Titel: Indigo (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
Vom Netzwerk:
schlammig war, und dann, als er dachte, wieder aufstehen zu können, war er verwachsen mit so einem Rohr, das da aus dem Boden gekommen ist oder so.
    – Ja, oder so.
    – Ich erfinde das nicht! Du kannst ja nachschauen, der Film müsste öffentlich zugänglich sein, wenn er im Fernsehen gelaufen ist, nehme ich an ... Jedenfalls haben sie dieses Interview mit ihm gemacht, das war total krank, weil ... die haben ihn interviewt, während er da mit dem Kopf am Boden und so weiter, das war so pervers, dass ich umschalten musste. Na ja, also was die Ratten betrifft, sie haben dieses unendlich verzweigte und verästelte Sozialsystem, ja? Und das ist so feinmaschig und eng, dass sie ganz genau spüren, wenn eine andere Ratte, sagen wir, eine, die eine höhere Position innehat, in Schwierigkeiten ist oder wenn sie Selbstzweifel hat oder sich verlaufen hat. Aber sie helfen ihr nicht, weil sie ja keine Menschen sind, klar? Bei ihnen läuft das ganze soziale Dings anders ab. Na ja, und ... die haben diese Struktur und ... und das ist aber noch nicht alles, weil das Netz, das ist so fein, dass sie oft sogar unbelebte Gegenstände miteinbeziehen, sozusagen als symbolische Mit-Geschöpfe, Ratten ehrenhalber. Das können Gegenstände sein, die für die Erhaltung der Gesamtpopulation wichtig sind, ein tropfendes Heizungsrohr in einem Schacht zum Beispiel, oder die Sonne oder was weiß ich, das Gitter eines Entlüftungsschachts, wo immer besonders viele Zigaretten durchfallen. Solche Dinge. Die Ratten denken überhaupt immer nur in Gesamtpopulationen, niemals nur in Familien oder Clans oder Rudeln. Egoisten sind sie natürlich trotzdem. Das ist spieltheoretisch auch leicht zu verstehen, weil ... äh ... schau dir zum Beispiel einen Betrieb in der Menschenwelt an, ja? Zum Beispiel eine Firma, die nur Waffen herstellt und, was weiß ich, schreckliche Nervengasgranaten an irgendwelche dubiosen Firmen weiterverkauft und lauter so verantwortungslose Scheiße, aber jeder Einzelne im Betrieb, jeder Mensch, ist ein wirklich netter, freundlicher Bürger, der nur das Studium seiner Kinder finanzieren will, der zufrieden ist, wenn er abends, nach getaner Arbeit, mit einer Zigarre im Mund im Garten sitzt oder wenn er die Steine in seinem Garten in eine neue Ordnung bringt, die von oben betrachtet eine geometrische Nachricht ergibt, oder wenn er vor dem Computer sitzt und sich harmlose Filme mit weinenden Frauen ansieht. Ganz normale Menschen, Männer und Frauen, nett und umgänglich, sogar vernünftig. Und das ganz rauf bis in die Führungsetage, nur eben mit anderen Accessoires und in Luxusapartments, aber ... wo war ich? Die Ratten, die ...
    – Lies mir ein paar Graffiti vor, sagte Julia.
    Wir kamen an der Mauer am hinteren Rand des Parks vorbei, der spraydosenbewehrte Betreuer regelmäßig Updates verpassten.
    – Da steht nicht viel Neues, sagte ich.
    – Keine Banksy-Ratte oder so ...?
    – Doch, natürlich, da oben.
    Ich deutete auf eine Stelle, die viel zu weit weg war, als dass Julia etwas hätte erkennen können.
    – Da hockt sie, sagte ich.
    – Beschreib sie mir.
    – Sie hat eine Brille auf, sagte ich.
    – Und?
    Wir gingen langsam weiter.
    – Sie balanciert über ein Seil. Mit so einem Seiltänzerstock in den Pfoten. Und sieht aus wie eine Ratte und ...
    – Und steht irgendwas dabei?
    Ich überlegte.
    – Nein, sagte ich. Kein Wort.
    – Deine Stimme ist wieder ganz normal, sagte Julia. Komm, gehen wir da lang.
    Ich fühlte mich tatsächlich ein wenig konzentrierter als vorhin. Klarer im Kopf.
    Ein Hund ging im Park mit seinem Besitzer spazieren. Die Leine war mehrere Male um die Hand des Mannes gewickelt.
    – Ratten, sagte ich, sind ganz anders als Hunde.
    – Ach so? Inwiefern?
    – Na, Hunde sind doch von uns gezüchtet worden, in mühevoller Arbeit von Generation zu Generation. Aber was hatte die langsame Heranzüchtung der Spezies Hund eigentlich für einen Zweck? Bewachung von Grundstücksgrenzen und Schafherden, Spielgefährte des Menschen, na ja ... Herausgekommen ist diese seltsame Liebesmaschine, die ihren Herrn anhimmelt ... Vielleicht war’s auch so gedacht, ein Tier zu schaffen, mit dem man kommunizieren kann. Einen sentimentalen Gefährten, der die Einsamkeit der eigenen Spezies weniger vollkommen, weniger lückenlos und absolut erscheinen lässt ...
    Ich merkte, dass sich meine Stimme wieder verselbständigte,und hielt inne, konzentrierte mich auf den braungetretenen Kies auf dem

Weitere Kostenlose Bücher