Infam
verlassen hatte, bevor die alltägliche Gewalt auf den Straßen ihren endgültigen Tribut gefordert hatte.
Wir setzten uns auf einen Holzstapel am Kaiufer. Ein einsamer Schleppkahn schipperte in Richtung des Bostoner Hafens, beladen mit einem Berg Schlick von einer Ausbaggerung flussabwärts. »Wie geht’s Tina und Kristie?«, erkundigte ich mich.
»Bestens«, antwortete er wenig überzeugend. »Die Insel ist gut für eine Familie. Ein großer Unterschied zur Stadt.«
»Wie Tag und Nacht«, pflichtete ich bei.
»Wir haben ein kleines Haus in Siasconset, direkt am Strand. Sonnenuntergänge. Saubere Luft.«
»Es gibt nichts Besseres.«
Sein Lächeln war ein wenig verkniffen. »Sie ist wieder schwanger. Tina, meine ich.«
Ich musterte ihn. »Herzlichen Glückwunsch. Im wievielten Monat ist sie?«
»Im sechsten.«
»Junge oder Mädchen?«, fragte ich. »Oder wisst ihr es nicht?«
»Junge«, sagte er. Er kniff seine Augen zusammen, als versuche er, durch den Dunst in die Zukunft zu sehen.
Anderson war sowohl mutig als auch einfühlsam, und mir gefiel die Vorstellung, dass er einen Sohn gezeugt hatte, ich konnte aber nicht sagen, wie er das Ganze sah. »Und was empfindest du dabei?«, fragte ich.
Er sah mich an. »Was empfinde ich wobei? Was meinst du?«
»Ich meine, noch ein Kind zu haben. Bist du glücklich?«
»Selbstverständlich.« Er zuckte mit den Achseln. Das verkniffene Lächeln kehrte zurück. »Wieso sollte ich nicht glücklich darüber sein?«
»Dafür gibt es viele Gründe«,
flüsterte die Stimme in meinem Hinterkopf.
»Menschen reagieren mit den verschiedensten Gefühlen auf die bevorstehende Geburt eines Kindes«, sagte ich.
Er schüttelte den Kopf und starrte über das Wasser. »Ich bin nicht hergeflogen, um bei dir auf der Couch zu liegen, Frank. Stellst du das denn nie ab?«
Das tue ich nie, was mich mehr als einen Freund und zahllose Essenseinladungen gekostet hat. An irgendeinem Punkt während meiner Ausbildung in der Psychiatrie habe ich die Fähigkeit verloren, an der Oberfläche der Dinge zu bleiben. Ich wurde zu einem gnadenlosen Bohrer – in einem Ausmaß, dass ich mich nach Andersons Bitte, sein Unterbewusstsein vom Haken zu lassen, augenblicklich fragte, ob seine zwiespältigen Gefühle gegenüber seinem ungeborenen Kind wohl die treibende Kraft hinter seinem Interesse an dem Tod des Bishop-Babys wären. »Tut mir Leid.« Das war alles, was ich sagte.
Er wandte sich mir zu. »Ich hab’s nicht so gemeint, wie es sich angehört hat. Ich bin ausgelaugt. Ich war die ganze Nacht auf den Beinen.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.«
»Und wie steht’s mit dir? Das Mass General ist die Spitze der Spitzenklasse. Sehr beeindruckend.«
»Du bist wohl kaum hergeflogen, um mir wegen meines Jobs zu schmeicheln.«
Er beugte sich dichter an mich heran. »Hör zu, ich hab schon verstanden, was du gestern am Telefon gesagt hast. Glaub mir, ich habe auch immer noch Albträume von dem Fall. Ich sehe noch immer …«
»Das beweist, dass du dir deine Menschlichkeit erhalten hast«, unterbrach ich, um einem neuerlichen Durchkauen jenes Massakers zu entgehen.
»Und ich nehme es dir nicht im Geringsten übel, wenn du dieses Mal nicht mitmischen willst.«
»Gut. Denn das habe ich auch nicht vor.«
»Darf ich dir wenigstens erzählen, was mir Sorgen bereitet?«, fragte er.
»Sagtest du nicht gerade, du würdest nicht auf meiner Couch liegen wollen?«
Anderson zuckte mit keiner Wimper. »Wie ich schon am Telefon sagte, Darwin Bishop hat mich trotz all seiner Millionen praktisch eingeladen, seinen Sohn zu vernehmen. Einfach so bei ihm zu Haus. Ohne Beisein eines Anwalts. Ohne Beisein von irgendjemandem. Er hätte sich auf seine Rechte berufen und uns monatelang hinhalten können, bis wir hinreichenden Tatverdacht nachgewiesen hätten.« Er schüttelte den Kopf. »Der Junge hat den Mund nicht aufgemacht, aber trotzdem …«
»Vielleicht hat er keinen Grund, sich dir in den Weg zu stellen. Vielleicht ist seine kleine Tochter ja tatsächlich an plötzlichem Kindstod gestorben.«
»Aber das ist sie nicht.«
»Und das weißt du genau?«
»Wir haben gestern Abend den Obduktionsbericht bekommen«, erklärte Anderson. »Brooke Bishop ist an Erstickung infolge des Verschlusses der Atemwege gestorben.« Er senkte seine Stimme, vielleicht um seinen Worten die Schärfe zu nehmen. »Ihre Nasenwege und die Luftröhre waren mit PU-Schaum verklebt, dem Zeug, mit dem man Fenster
Weitere Kostenlose Bücher