Inferno
den Vorgang, und erneut klapperte es. Das Glas leuchtete für einen kurzen Moment schwach auf … und erlosch.
»Das scheint ein Teströhrchen mit einer Erregerkugel zu sein«, folgerte Sienna. »Das Röhrchen enthält wahrscheinlich eine phosphoreszierende chemische Substanz. Oder einen biolumineszierenden Organismus. Was auch immer, bei entsprechender Stimulation fängt es an zu leuchten.«
Langdon hatte eine andere Idee. Er kannte Leuchtstäbe und auch biolumineszierendes Plankton, das Licht erzeugte, wenn beispielsweise ein Boot seinen Lebensraum durcheinanderwirbelte, aber er war sicher, dass der Zylinder in seiner Hand nichts dergleichen enthielt. Behutsam kippte er das Gebilde mehrere Male, bis es leuchtete, dann hielt er das lumineszierende Ende über seine Hand. Wie erwartet erschien ein schwacher roter Lichtfleck auf seiner Haut.
Schön zu wissen, dass sich selbst ein IQ von 208 manchmal irren kann.
»Passen Sie auf«, sagte er und schüttelte das Siegel kräftig. Das Objekt im Innern rappelte laut, als es schneller und schneller auf und ab raste.
Sienna zuckte erschrocken zurück. »Was machen Sie denn da?«
Ohne mit dem Schütteln innezuhalten, ging Langdon zum Lichtschalter und legte ihn um. Augenblicklich war es in der Küche dunkel. »Das ist kein Teströhrchen«, sagte er, während er den Zylinder so kräftig schüttelte, wie er konnte. »Das ist ein Faraday-Pointer .«
Langdon hatte von einem seiner Studenten ein ähnliches Gerät geschenkt bekommen – einen Laserpointer für Dozenten, die gegen die endlose Verschwendung kleiner Batterien waren und nichts dagegen hatten, ihren Pointer ein paar Sekunden lang zu schütteln, um kinetische in elektrische Energie zu verwandeln, bevor sie das Gerät benutzten. Beim Schütteln streifte im Inneren eine kleine Kugel an einer Reihe winziger Blättchen vorbei, die ihrerseits über Piezo-Effekte, ähnlich dem Zündfunken eines modernen Einwegfeuerzeugs, Strom erzeugten. Der Strom wurde in einem Kondensator gespeichert und ermöglichte den kurzzeitigen Betrieb des Lasers.
Anscheinend hatte irgendjemand einen solchen Pointer in einen geschnitzten, hohlen Knochenzylinder gesteckt – eine antike Hülle für ein modernes elektronisches Spielzeug.
Die Spitze des Pointers in Langdons Hand leuchtete nun intensiv, und Langdon bedachte Sienna mit einem nervösen Blick. »Showtime.«
Er richtete den Pointer auf ein Stück nackte Küchenwand. Sienna sog verblüfft die Luft ein, und Langdon hob die Brauen.
Das Licht an der Wand war kein roter Laserpunkt, sondern eine hochauflösende Fotografie. Das Gebilde im Innern des Knochenzylinders war die ultramoderne, miniaturisierte Ausgabe eines Diaprojektors.
Mein Gott! , dachte Langdon. Seine Hand zitterte leicht, als er die makabre Szene an der Wand analysierte. Kein Wunder, dass ich Visionen von Tod und Verderben hatte!
Neben ihm schlug Sienna die Hand vor den Mund und trat vorsichtig einen Schritt näher. Sie war fasziniert von dem, was sie sah.
Die Szene zeigte ein schauriges Gemälde von menschlichem Leiden – Tausende von Seelen, die in verschiedenen Ebenen der Hölle Folterqualen durchlitten. Die Unterwelt war dargestellt als ein Querschnitt durch die Erde: ein gewaltiges trichterförmiges Loch von unvorstellbarer Tiefe. Der bodenlose Trichter bestand aus einer Abfolge von abwärts führenden Terrassen, eine jede davon bevölkert von gepeinigten Sündern aller Art.
Langdon erkannte das Gemälde sofort.
Das Kunstwerk an der Wand – La Mappa dell’Inferno – stammte von einem wahren Giganten der italienischen Renaissance: Sandro Botticelli. Diese »Karte der Hölle« war ein meisterhafter Entwurf der Unterwelt und eine der furchteinflößendsten Visionen des Jenseits, die je erschaffen worden waren. Dunkel, grimmig, schauerlich – selbst heutzutage blieben die Menschen beim Anblick des Gemäldes wie angewurzelt stehen. Im Gegensatz zu den vor Leben sprühenden, farbenfrohen Werken Nascita di Venere , Geburt der Venus und Primavera , Frühling , hatte Botticelli seine Mappa dell’Inferno in einer bedrückenden Palette von Rot-, Sepia- und Brauntönen gehalten.
Mit einem Schlag waren Langdons fürchterliche Kopfschmerzen wieder da – trotzdem hatte er zum ersten Mal seit seinem Erwachen in dem fremden Krankenhaus das Gefühl, dass sich soeben ein kleines Stück des Puzzles an die richtige Stelle gefügt hatte. Seine grausigen Halluzinationen rührten offensichtlich vom Betrachten dieses
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