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Ingrid

Ingrid

Titel: Ingrid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felix Thijssen
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höher gelegenen, offenen Achterdeck führte. Ihr beigefarbener Rock flatterte ihr heftig um die Waden.
    Ich rannte ihr hinterher, Nel folgte mir auf dem Fuß.
    Das kleine Achterdeck war bis auf Ingrid menschenleer. Nebelfetzen trieben vorüber und vermischten sich mit dem Rauch aus den Schornsteinen, Wasserstrudel schäumten hinter dem Schiffsheck her.
    Ingrid stand an der Backbordreling und hielt mit beiden Händen Tommy fest, der in seinem roten Jäckchen auf dem lackierten Geländer saß und ängstlich auf die unruhige See blickte. Sobald Ingrid mich im Treppenaufgang erscheinen sah, fing sie an zu schreien: »Geht weg! Lasst mich in Ruhe!«
    »Ingrid, ich will doch nur mit dir reden.« Ich trat auf das Deck hinaus. Nel war direkt hinter mir. Ich ging ein paar Schritte nach vorn.
    Ingrid packte Tommy, hielt ihn mit gestreckten Armen über das Wasser und kreischte: »Bleib stehen!«
    Ich hielt erschrocken inne. Ich spürte, wie Nel sich hinter mir zu einem Sprint anschickte, versperrte ihr aber mit einer Hand den Weg. Ingrid war stark, doch Tommy wog Einiges, und ihre Arme zitterten vor Anspannung. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen, sie war leichenblass, abgemagert, hypernervös. Sie ähnelte in keiner Weise mehr der unwiderstehlichen Blondine, die über dem Lingewasser geschaukelt hatte und kurz darauf sorglos mit mir ins Bett gehüpft war.
    Tommy fing an zu weinen. Er rührte sich nicht, als spüre er instinktiv, in welcher Gefahr er schwebte. Er drehte nur den Kopf zur Seite, und ich sah Panik in seinen ET-Augen. »Mami!«
    »Ingrid, pass auf, du tust ihm weh!«, rief Nel leise.
    Ingrid stützte ihre Ellbogen auf der Reling ab, um das Gewicht besser halten zu können und fing an, eindringlich in Tommys Ohr zu flüstern.
    Ihr blondes Haar, das ihr in feuchten, vom Nebel glänzenden Strähnen um das Gesicht flatterte, verlieh ihr etwas Geisterhaftes.
    »Keinen Schritt weiter!«, schrie sie. »Ich warne dich!«
    »Ingrid«, versuchte ich es in einem sachlichen Ton. »Was willst du denn, dass wir ins Meer springen?«
    »Du hättest dich nicht einmischen sollen!«, rief sie, und dann, kläglich und gekränkt: »Ich dachte, wir wären Freunde!«
    Tommy hatte aufgehört zu weinen, machte nur noch ein ängstliches Gesicht und hörte zu. Ich konnte jetzt nicht von Mord sprechen oder von seiner Mutter. »Wenn du dieses Brecheisen zu Hause gelassen hättest, dann wäre ich auch dein Freund geblieben«, sagte ich nur.
    Hinter mir ließ Nel unsere Tasche mit Essbarem auf das Deck sinken und murmelte: »Der Kater hat sie schon voll erwischt.«
    Ich schaute Ingrid an und nickte. Kein normaler Mensch konnte einen grauenvollen Mord begehen und für den Rest seines Lebens so tun, als sei nichts geschehen. Das Blut des Opfers kriecht ihm buchstäblich unter die Haut, ins Gehirn, ins Gedächtnis und in die Sinne. Jedes Mal, wenn sie Tommy anschaute, würde sie es sehen und riechen und daran erinnert werden, so lange, bis es eines Tages zu viel würde.
    »Ich gehe«, flüsterte Nel und stellte sich neben mich.
    »Alles war gut!«, jammerte Ingrid. »Ich hatte meinen kleinen Sohn wieder!«
    »Aber du hast ihn doch noch«, sagte ich besänftigend. »Halte ihn gut fest. Komm, ich helfe dir.«
    Ich merkte, dass ihr Griff um Tommy automatisch fester wurde. Sie zog ihn an sich und fast von der Reling herunter. Ich ging einen Schritt nach vorn und sah, wie sie schlagartig ihre Meinung änderte.
    »Niemand kriegt ihn!«, schrie sie und setzte plötzlich ihren rechten Fuß auf eine der Querstangen. Sie war stark und beweglich genug, um in einer fließenden Bewegung mitsamt Tommy über die Reling springen zu können.
    Ich schrie ihr zu. Nel spurtete los.
    Ingrid wandte sich mit einem Ruck zu uns um und warf Tommy kraftvoll gegen die heranstürmende Nel. Tommy stieß einen Schrei aus. Nel fing ihn auf. Sie konnte gerade noch verhindern, dass er auf dem Deck aufschlug und war eine halbe Sekunde lang außer Gefecht. Ingrid saß bereits auf dem Geländer. Ich rannte, griff mit beiden Händen nach ihr und bekam ihre Schulter und einen Ärmel ihrer Leinenjacke zu fassen.
    Ingrid drehte sich um, den Oberkörper dem Wasser zugewandt, das Gesicht verzerrt von Hass und Hysterie: »Lass mich los!«
    Ihre Füße suchten und fanden den Rand des Decks auf der anderen Seite der Reling, und sie drehte sich mit aller Kraft seitwärts, wand sich und zerrte an ihrem Arm, bis sie wie eine Schlange aus ihrer Jacke schlüpfte.
    Ich versuchte, sie festzuhalten,

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