Ins dunkle Herz Afrikas
ihrem Gesicht.
lan hielt sie dann, sagte nichts, drückte sie nur. Manchmal spürte sie, dass sein Arm zitterte oder sein Herzschlag schneller wurde, und mehr als einmal hatte sie das Gefühl, dass er ihr etwas verheimlichte. »Ist etwas, Liebling?«, murmelte sie eines Nachts und fuhr die kräftige Linie seiner Lippen mit der Fingerspitze nach. »Hast du Sorgen? Ich spür doch, dass da etwas ist.«
Seine Hand lag locker und warm auf ihrem Arm. Bei ihren Worten jedoch wurden seine Finger zur Schraubzwinge. »Au«, quietschte sie, »das tut weh!«
»Oh, tut mir Leid, ich hab nicht gemerkt, dass ich so fest zugepackt habe.«
»Also, was ist? Dich quält doch etwas, sag's mir, Liebling, was ist es?« Als Antwort wandte er das beste Ablenkungsmanöver an, eins, das immer Erfolg hatte. Er küsste sie, langsam und sehr zärtlich, erst auf den Mund und dann die Stellen, wo sie besonders empfindlich war. »Mmmh«, stöhnte sie und vergaß ihre Frage.
Nachdem sie mehr als ein Jahr gesucht hatten, fanden sie in der Nähe der Elbe ein Grundstück. Mit meinem Garten in Afrika ist es nicht zu vergleichen, dachte Henrietta, sagte es aber nicht, als sie lans Begeisterung bemerkte. Das Gebiet war nach dem Krieg als Siedlungsgebiet ausgewiesen und mit gleichförmigen Spitzdachhäusern bebaut worden. Jedes der Häuser besaß rund tausendfünfhundert Quadratmeter
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Land, das zum Gemüseanbau und zur Kleintierhaltung ausgewiesen worden war. In den siebziger Jahren hatten jedoch immer größere und aufwendigere Villen die Siedlungshäuser verdrängt. Es war ein sonniger Morgen Ende Februar 1980, Meisen sangen, Finken schlugen, und unter einem alten Apfelbaum blühte ein Büschel gelber Krokusse, als sie nach dem Notartermin zum ersten Mal als Besitzer über ihr Grundstück schlenderten. Es dauerte nicht lange, und ein Nachbar gesellte sich zu ihnen. Er trug einen korrekt geknöpften blauen Regenmantel und einen karierten Schal. Seine karierten Hosenbeine vorsichtig lupfend, stieg er über die Pfützen des letzten Regens. »Brunckmöller.« Er hob seinen Hut. »Wir wohnen da drüben.« Er zeigte nach Norden. Sein Haus blinkte weiß hinter dem Gewirr kahler Aste unzähliger Bäume. Gauben, Erker, Vorbauten aus Glas saßen wie Pickel auf dem ursprünglichen Siedlungshäuschen. Eine Spitzengardine bewegte sich, die Gestalt einer Frau trat in den Schatten zurück. Frau Brunckmöller, vermutlich.
Herrn Brunckmöller musterte seine zukünftige Nachbarin, einmal runter und dann wieder rauf. Sein Blick blieb an ihren ausgewaschenen Jeans hängen. »Na, junge Frau, wissen Sie denn, wie man sich in so einer Gegend benimmt?«, fragte er.
Er hätte ihr ebenso gut mit einer Keule über den Schädel schlagen können, sie hätte nicht fassungsloser dreinschauen können. Hatte er das wirklich gesagt?
»Wie bitte?«
»Wir haben hier einen gewissen Standard, verstehen Sie.« Er bürstete sich ein eingebildetes Stäubchen von seinem Regenmantel.
Henrietta drehte ihrem Wappenring und dachte an Papa. Nur der Ring und sein Familienstolz waren ihm nach dem Krieg geblieben. »Ich kann euch nur eine gute Erziehung mitgeben«, pflegte er ihrem Bruder Dietrich und ihr zu erklären. Die prügelte er auch in sie hinein, wenn es nötig war. Das Lübecker Haus der Familie mit den sieben Schlafzimmern, dem Frühstückszimmer und den Salons, dem
, blauen und goldenen, die nach den Farben der Polstermöbel 101
benannt wurden, war zerbombt worden. Großmama, seit Jahren Witwe, die vier Sprachen sprach, wunderbar Klavier spielte, eine gefürchtete Bridge-Turnierspielerin war und einen Haushalt mit einer Schar Dienstboten perfekt leiten konnte, musste in eine Etagenwohnung ziehen.
Ein Zustand, den sie, wie die meisten Schicksalsschläge ihres langen, langen Lebens, vorzog zu ignorieren, denn mit einem kühlen Blick in die viereinhalb Zimmer der Wohnung, Schlafzimmer mit Ankleideraum, Wohnzimmer, Esszimmer und eins, das sie Herrenzimmer nannte, bemerkte sie: »Es hat auch sein Gutes, mir sind sowieso kaum Möbel geblieben, und ich werde nur noch Lischen und die Waschfrau brauchen.« Lischen war die alte Kinderfrau der Familie, die Papa und seine Brüder großgezogen hatte und jetzt Mädchen für alles sein musste.
Als Henrietta mit ihren Eltern im letzten Kriegsjahr aus Afrika kommend bei Großmama unterkroch, betrachtete diese kritisch das abgemagerte, malariagelbe Wesen, das ihr Enkelkind war. »Das Kind braucht Vitamine«, bemerkte sie und pflanzte
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