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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Franz
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konnte er ihr vielleicht entgehen, bis sie in Nuuk ankamen. Bei gut tausend Passagieren an Bord, die meisten von ihnen Deutsche, musste es möglich sein, den Tag zu überstehen, ohne auf Grönländisch angesprochen zu werden.
    Doch dann schaute er zum Horizont, der sich jetztscharf vom Meer absetzte. Die Alaska schob sich unaufhaltsam gen Westen, ihrem eigenen Schatten folgend. Am Abend würden sie in Nuuk einlaufen. Nein, es hatte keinen Sinn, den Kopf in den Sand zu stecken. Spätestens in Nuuk blieb ihm nichts anderes übrig, als mit anderen Menschen zu reden und sich ihrer ganz normalen Neugier zu stellen.
    Als er sich zu dieser Reise entschlossen hatte, hatte er den ersten Schritt gemacht, ohne sich darüber im Klaren zu sein, welchen Weg er damit einschlug. Er war einfach losgegangen, weil es offenbar so sein sollte. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr und auch Stehenbleiben ging nicht. Vielleicht war es ganz okay, mit der fremden Frau ins Gespräch zu kommen. Ein sicheres, unvermintes Gelände, eine Übung für den Ernstfall.

Nuuk, Grönland, Frühjahr 2011
    Vorm Café Crazy Daisy tobte der Sturm durch die Straßen von Nuuk und ich klopfte mir den Schnee von der Jacke. Im Radio hatte irgendwer von Frühlingsgefühlen geredet, aber das war wohl ein Witz gewesen. Im Crazy Daisy roch es nach Kaffee, Pizza und Fisch und der Laden war gestopft voll. Halb Nuuk schien sich vor dem überraschenden Schneegestöber ins Daisy gerettet zu haben.
    Ich setzte mich in meine Stammecke an den roten Plastiktisch, wo ich schon unzählige Stunden meines Lebens vergeudet hatte, und wartete auf Aqqaluk. Wir hatten uns für ein zweites Frühstück verabredet, aber wie so oft tauchte er nicht auf. Stattdessen hockte sich ausgerechnet Ingvar neben mich, und der ging mir schon nach drei Minuten auf die Nerven.
    »Hör mal, Pakku«, sagte er in diesem nuscheligen Ton, den er für cool hielt. »Ist dir klar, dass du ins Guinnessbuch der Rekorde gehörst?« Er stemmte die Hand auf seinen breiten Schenkel und grinste mich an.
    »Nee«, antwortete ich und rührte in meinem Milchkaffee. Wahrscheinlich kam gleich eine Anspielung darauf, dass ich Kaffee trank und kein Bier.
    »Du bist der langweiligste Typ in der langweiligsten Stadt der Welt!« Ingvar lachte und haute mir auf die Schulter.
    »Genau.« Ich lächelte müde. »Du hast es erfasst, Ingvar. Und deshalb gehe ich jetzt auch nach Hause und räum mein Zimmer auf. Oder ich lese ein gutes Buch, mal sehen. Jedenfalls irgendwas richtig schön Langweiliges.«
    Ich nickte ihm zu, ging zum Tresen, um meinen Kaffee zu bezahlen, und ließ die Tür des Cafés hinter mir zufallen. Draußen zog ich mir die Kapuze bis zu den Augen und stemmte mich gegen den Wind. Was ging mich Ingvar an?
    Eine halbe Stunde später hatte der Schneesturm so plötzlich aufgehört, wie er gekommen war, und die Sonne arbeitete daran, die Sache mit den Frühlingsgefühlen voranzutreiben. Ich saß am Computer, Wand an Wand mit meinem Vater, der im Nebenzimmer mit sich selber sprach, und spielte Backgammon. Ein Spiel, das so altmodisch war, dass ich bei Ingvar wahrscheinlich endgültig unten durch gewesen wäre, wenn er mich dabei erwischt hätte. Ich spielte mit Spider, so wie ich es fast den ganzen langen Winter über getan hatte.
    du hast glück heute
    glück?
    zwei päsche hintereinander
    wenn du das glück nennst
    tu ich. du nicht?
    nein
    was ist denn glück für dich?
    drei päsche hintereinander
    das auch
    ...
    was ist los? das war ein idiotischer zug
    schlechte laune
    krach mit den eltern?
    quatsch
    Spider hatte recht. Das war ein idiotischer Zug. Ich versuchte, mich auf das Spiel zu konzentrieren und die Stimme auszublenden, die nebenan herumschrie. Auch zwei Päsche nützen nichts, wenn du kurz darauf Fehler wie ein Anfänger machst.
    Aber es ging nicht. Das Gemurmel meines Vaters war in Toben und Fluchen übergegangen. Es drang durch die dünne Holzwand in meine Ohren und von dort in mein Hirn und legte es lahm. Kurzschluss. Ich klinkte mich aus dem Spiel, ohne mich zu verabschieden, schaltete den PC aus, ließ mich in meinem Schreibtischstuhl zurücksinken und gab mich wehrlos dem Gebrüll hin. Mein Vater war auf Entzug, so wie in jedem Frühling. Wenn die Tage länger wurden, erwachte in ihm der Kampfgeist. Er schüttete den Rest seines Wodkas in den schmelzenden Schnee, überließ mir seine halb volle Kiste Bier und begab sich hinaus in die majestätische Natur, wie er sich ausdrückte. Das hieß, er rannte

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