Ins Nordlicht blicken
nicht wortlos gehen, wusste aber nicht, wie er sich verabschieden sollte.
»Komm«, wiederholte er und blieb dennoch vor dem Grab stehen. Da half ihm Shary. Sie holte ihren Pocketpower aus der Hosentasche, ging einen Schritt zurück und machte ein Foto von Jonathan und dem Grab seiner Mutter, im Hintergrund verschwommen das von Eisschollen bedeckte Meer. »Takussaagut«, sagte sie, faltete kurz die Hände und hakte sich dann bei Jonathan unter, »auf Wiedersehen.«
Hamburg, Winter 2011
Als Lloyd am Morgen nach seiner Geburtstagsfeier auf dem Weg zur Bäckerei war, hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Das musste der fremde Mann sein! Er spähte in alle Richtungen, aber er konnte niemanden entdecken. Halbwegs beruhigt ging er weiter. Doch als er nach wenigen Minuten vom Bäcker zurückkam, erschrak er. Der Mann stand vor der Haustür und klingelte. Es schien, als hätte er nur darauf gewartet, dass Jonathan allein zu Hause war. Lloyd versteckte sich hinter einem Lieferwagen und sah zu Jonathans Fenster hoch. Er schlief noch, die Vorhänge waren zugezogen. Lloyd atmete tief durch. Zum Glück hatte er die Klingel abgestellt, vorerst gab es nichts zu befürchten.
Er musterte den Fremden. Der Mann war groß und dünn, seine blonden Haare hingen ihm in die Stirn, seine Jeans und die braune Lederjacke waren abgetragen. War er ein Drogendealer oder ein Schläger, der angeheuert worden war, um Jonathan unter Druck zu setzen? Lloyd spürte, wie ihm der Schweiß die Achseln hinunterlief.
Der Mann drückte mehrmals auf die Klingel, dann schien er aufzugeben. Er sah die Straße hinunter und ging ein paar Schritte in Lloyds Richtung. Im Schutz des Lieferwagens wich Lloyd zurück und betrat eilig den Drogeriemarkt, vor dem der Wagen stand. Und so bekam er nicht mit, wie der Fremde zur Haustür zurückging, denKopf in den Nacken legte und voller Verzweiflung und Wut einen Namen brüllte, der Lloyds Verwirrung noch vergrößert hätte. »Pakkutaq! Pakkuuuuuu!«
Obwohl das Gebrüll bis hoch in den vierten Stock des Hauses drang, wachte Jonathan nicht davon auf. Doch in dem Traum, den er träumte, sah er das Bild einer kalten, pulsierend grünen Frühlingsnacht, in der sein Vater auf und ab rannte, ohne Jacke und Mütze, und sich die brennende Sehnsucht nach dem Alkohol von der Seele schrie.
Lloyd war kein mutiger Mann. Aber als er vorsichtig aus der Drogerie spähte, wurde er plötzlich wütend. Sollte er sich nicht mehr auf die Straße wagen, weil dieser heruntergekommene Typ dort rumlungerte? Wie würdelos war das denn, sich vor ihm in Supermärkten und hinter Autos zu verstecken? Und vor allem war es sinnlos. Wenn der Mann an zwei Tagen hintereinander aufgetaucht war, würde er wiederkommen, bis er Jonathan irgendwann zu fassen bekam. Er beschloss, den Fremden anzusprechen. Am hellen Tag und auf offener Straße würde ihm schon nichts passieren.
Wirklich gefährlich sah der Fremde nicht aus. Sicherlich war er nur eine kleine Nummer und kein Profikiller. Trotzdem spürte Lloyd geradezu körperlich, dass von diesem Typen eine Bedrohung für Jonathan ausging. Für Jonathan und das Leben, das er nun schon seit mehr als einem halben Jahr mit ihm teilte.
Mit der Brötchentüte in der Hand ging er auf den Mann zu, genau in dem Moment, als dieser dem Haus den Rücken kehrte. Er folgte ihm die Straße hinunter, eine Allee aus dickstämmigen Kastanienbäumen, deren nackteÄste sich in der Mitte der Straße berührten. Es kam Lloyd vor, als wäre es ewig her gewesen, dass Jonathan die Früchte in ihren stacheligen Schalen aufgehoben hatte. Wie ein Kind hatte er sie eifrig gesammelt, vorsichtig die Schalen zertreten und die Kastanien in der Küche auf die Theke gelegt. Lloyd hatte ihn gefragt, ob es auf den Philippinen auch Kastanien gäbe, doch statt einer Antwort war nur die Freude auf Jonathans Gesicht erloschen.
Als Lloyd jetzt dem Fremden in seiner speckigen Lederjacke folgte, wuchs in ihm mit jedem Schritt die Wut auf den Mann, der da so plötzlich in ihr Leben eingebrochen war. Was für ein Elend mochte Jonathan schon erlebt haben, das ihn so verschlossen hatte werden lassen? Dieser erbärmliche Typ da vor ihm war ein Teil seiner Vergangenheit. Was hatte er vor? Lloyd wusste, dass die Drogenszene zu allem fähig war. Wenn Jonathan tatsächlich mit der Alaska Rauschgift aus Asien geschmuggelt hatte, dann würde der Mann den Jungen nicht mehr in Ruhe lassen. Ganz gleich, ob Jonathan die Drogen tatsächlich irgendwo
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