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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Franz
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Luft, es gab keinen Weg, keine Straßen, nichts war mehr da als die Weite des Himmels und der glitzernde Schnee.
    Jonathan hielt Shary fest in den Armen, er hatte die Augen halb geschlossen. Alles war wieder da, die wilde Fahrt von Ilulissat nach Norden in die Nacht hinein, mit Aqqaluk im Schlitten seines Onkels an seiner Seite, ah kuluk, ai gnai panikuluk, panikuluk, tunirrusiara arnakuluk, maana qaujimanngittuq suli , die alte Melodie tauchte in ihm auf; irgendwer hatte sie gesungen auf dieser Reise.
    Die Fahrt dauerte kaum mehr als eine halbe Stunde. Sie drehten nur eine große Runde und kamen dann wieder bei den Iglus an, wo sie über dem Feuer gegrillten Fisch zu essen bekamen. Als Jonathan Shary neben dem jungen Jeepfahrer sitzen sah, das runde Gesicht gerötet von Wind und Kälte, die schwarzen Augen nur als Schlitze zu sehen, weil die tief stehende Sonne sie blendete, wurde er von einer Wehmut durchströmt, die ihm die Kehle eng werden ließ. Er wusste, dass dieses Gefühl etwas mit seiner Mutter zu tun hatte, mit der Ahnung, dass auch sie solche Momente erlebt haben musste, damals, als sie hier in Qaanaaq ein Kind gewesen war.
    Evie Kristiansen. Wie eine einsame Eisscholle trieb der Name durch Jonathans Erinnerungen, losgelöst von allem, was sein Leben ausgemacht hatte. Es hätte nur noch ein paar gedankenlose Jahre gebraucht, dann wäre dieser Name für immer aus seiner Welt verschwunden. Jonathan spürte plötzlich eine Unruhe, als liefe ihm die Zeit davon. Am liebsten wäre er sofort zum Friedhof aufgebrochen, um nach dem Grab seiner Mutter zu suchen.

Hamburg, Winter 2011
    Lloyd stand mit Jonathan in einem Kreis befreundeter Kollegen, von denen er wusste, dass sie den Jungen trotz seiner Schweigsamkeit mochten. Sie diskutierten über die neue Hafencity, die an der Elbe gebaut wurde, nicht ahnend, dass dieses Viertel mitsamt seinem sündhaft teuren Konzerthaus nur wenige Jahrzehnte existieren sollte, bis es bei den großen Überschwemmungen im Herbst 2024 in den Fluten der Elbe ertrinken würde.
    Jonathan hörte dem Gespräch nicht zu. Er war mit den Gedanken noch bei Manolis Vorschlag. Eigentlich war es ihm ziemlich egal, dass aus der Arbeit im Kiosk nichts zu werden schien, aber Lloyds aufbrausendes Verhalten hatte ihn irritiert. Er hatte ihn noch nie so übellaunig erlebt. Nach wenigen Minuten löste er sich von der Gruppe und ging auf den Balkon. Obwohl es Mitte Dezember war, lagen die Temperaturen auch nachts bei acht Grad und es wehte ein milder Wind von Westen.
    Als Lloyd den Jungen auf dem Balkon sah, brach er mitten im Satz ab, folgte ihm und zog ihn ins Zimmer zurück. Ungewöhnlich kurz angebunden gab er ihm den Auftrag, die Spülmaschine mit Gläsern zu füllen. Jonathan zuckte gleichgültig die Achseln und machte sich an die Arbeit. Lloyd ließ ihn nicht aus den Augen, während er sich zu seinen Freunden stellte.
    »Er ist froh, wenn er was zu tun hat. So eine Stehpartyist natürlich langweilig, wenn man noch keine fünfzig ist«, erklärte er mit einem entschuldigenden Lächeln. Auch seine Freunde lächelten – so wie sie es angesichts Lloyds väterlicher Fürsorge schon seit Monaten taten.
    In den ersten Tagen, nachdem er Jonathan bei sich aufgenommen hatte, war Lloyd manchmal knapp davor gewesen, ihn vor die Tür zu setzen, weil seine Distanziertheit ihn extrem verunsicherte. Doch schon nach kurzer Zeit fühlte er sich verantwortlich für den fremden Jungen, der offenbar kein Zuhause hatte. Vergeblich hatte er versucht, aus ihm herauszubekommen, was er erlebt hatte, wodurch er so still geworden war. Jonathan schien keine Vergangenheit zu haben, jedenfalls keine, an die er zurückdenken wollte. Niemals sprach er von dem Schiff, dessen Uniform er getragen hatte, als Lloyd ihn kennenlernte, und auch nicht von seiner Familie, von Freunden, von der Schule, die er doch besucht haben musste. Sein Deutsch war fast perfekt. Nur selten fehlte ihm ein Wort oder er verstand eine Redewendung nicht. Lloyd hatte zunächst vermutet, dass er das Kind philippinischer Einwanderer war. Doch jede Frage in diese Richtung blockte Jonathan mit der gleichen Teilnahmslosigkeit ab, mit der er Fragen auswich, die seine Zukunft betrafen. Dass er sich an diesem Abend bereit erklärt hatte, über Manolis Vorschlag nachzudenken, war ein ungewohnter Schritt. Umso überraschender war es, dass Lloyd diese Initiative plötzlich im Keim erstickte.
    Manoli hatte sich wieder zu seiner Frau an die Theke gestellt und ihr von

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