Ins Nordlicht blicken
war.
Lloyd war wie erwartet nicht mehr in der Wohnküche, aber er schien auch noch nichts gegessen zu haben. Normalerweise stand die Espressokanne mit frisch gebrühtem Kaffee auf dem Herd. Jonathan ging wieder auf den Flur, wo er jetzt Lloyds Stimme aus dem Arbeitszimmer hörte. Sie klang eindringlich, fast bittend und gequält, ganz anders als sonst. Unwillkürlich trat er näher an die Tür und lauschte. Er verstand nicht alles von dem, was Lloyd da sagte. Nur so viel, dass er bereit war, irgendjemandem ein paar Tausend Euro zu zahlen, wenn er ihn, Jonathan, trotz fehlender Unterlagen und Zeugnisse in den laufenden Betrieb aufnähme. Eine Minute lang war es still, dann hörte er die entscheidenden Worte. »Ja, vielen Dank für Ihr Entgegenkommen. Ich bringe den Jungen noch heute vorbei.«
Jonathan verharrte unbeweglich vor Lloyds Zimmertür und tat nichts. Er blieb einfach nur dort stehen und ließ die Zeit verstreichen. Irgendetwas war geschehen, etwas, das ihm Angst machte. Schließlich öffnete sich die Tür und Lloyd kam heraus. Sein Gesicht war wächsern und eingefallen wie das eines alten Mannes. So als hätte er dem Tod ins Gesicht geschaut. Er sah ihn nicht an, sondern schaute auf seine Hände, während er sprach.
»Ich habe dich bei einer Steinmetzschule angemeldet, Jonathan«, sagte er, »in Niedersachsen. Du kannst morgen dort anfangen. Es ist eine sehr angesehene Schule mit einem guten Internat. Es wird dir gefallen.«
Jonathan sah ihn stumm an.
»Das kommt vielleicht etwas plötzlich. Aber du musst doch irgendetwas tun. Was aus deinem Leben machen. Es wird dir gefallen«, wiederholte er tonlos.
Jonathan beobachtete Lloyds schmale, langgliedrige Finger, die sich unruhig bewegten. Wie Spinnenbeine sahen sie aus mit ihren schwarzen Härchen.
»Warum hast du mich nicht gefragt?« Jonathans Stimme klang kalt. Es war eine Kälte, die aus der Erstarrung kam.
Immer noch hob Lloyd nicht den Blick. »Es war ein überraschendes Angebot dieser Schule. Eine einmalige Chance.« Abrupt drehte er sich um, öffnete einen der Einbauschränke und holte eine Reisetasche heraus. »Ich mache dir Frühstück. Du kannst in der Zeit packen«, sagte er, als er Jonathan die Tasche vor die Füße stellte.
Zwei Stunden später saßen sie in Lloyds BMW und fuhren über die Autobahn. Jonathan saß auf dem Beifahrersitz und hielt den Prospekt der Schule in den Händen,den Lloyd ihm ausgedruckt hatte. Ein paar bunte Seiten, auf denen junge Männer in die Kamera grinsten und stolz ihre Abschlussarbeiten präsentierten. Es waren weiße Skulpturen, einige fast mannshoch, und obwohl Jonathan nicht wollte, war sein Interesse geweckt worden. Er nahm die schneebedeckte Winterlandschaft jenseits der Autobahn nicht wahr und er schaute kein einziges Mal zu Lloyd, dessen Blick starr nach vorne gerichtet war. Nur die Arbeiten dieser Typen sah er sich an, ihre kunstvollen Meisterstücke genauso wie die Treppen und Grabsteine, die sie behauen hatten. Dieser plötzliche Aufbruch, Lloyds unverständliches Verhalten, all das, was in den letzten Stunden passiert war, hatten das bisschen Halt, das er in seinem neuen Leben gefunden hatte, zerschmettert. Er wusste instinktiv, dass er Lloyd nie wiedersehen würde. Lloyd würde sich ohne Erklärung von ihm verabschieden, würde sich verpissen, so wie Spider und so wie seine Großmutter damals. Aber er fühlte auch, dass eine Saite in ihm zu schwingen begann. Er würde Steine bearbeiten. Das einzig Feste, an das er denken konnte. Und er schwor sich, niemals mehr zurückzuschauen.
Nuuk, Grönland, Sommer 2020
Sie hatten nur noch eine Nacht in Nuuk, bis die Alaska von ihrer Rundreise zurückkehren sollte. Am Abend waren sie mit Gunnars Flugzeug in der Hauptstadt gelandet. Shary hatte noch essen gehen wollen, aber Jonathan war so schweigsam gewesen, dass sie ihren Vorschlag von alleine zurückgenommen hatte. Natürlich hatte sie verstanden, dass es ihn aus der Bahn geworfen hatte, vom Tod seines Vaters zu erfahren. Und so waren sie an ihrem letzten Abend in Grönland im Kino gewesen, Hände haltend, dicht beieinander und trotzdem auf Abstand.
Wieder einmal lag Jonathan neben Shary auf dem Bett und schaute ihr beim Schlafen zu. Er strich ihr die langen schwarzen Haare zurück, die ihr Gesicht verschleierten, und zog die Decke hoch, die halb auf den Boden gerutscht war. Draußen fiel ein unermüdlicher Sommerregen vom Himmel und durch das geöffnete Fenster kam kühle Meeresluft ins Zimmer. Jonathan
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