Insel der Nyx: Insel der Nyx, Die Prophezeiung der Götter
anderen Kinder geweckt, bis fast die ganze Klasse Eleni nach draußen gefolgt war. Aber im Wald hinter der Jugendherberge war es ihren Mitschülern dann doch seltsam vorgekommen, und als Eleni zu sprechen begann, war die halbe Klasse in Panik geraten.
Eleni hatte lange gebraucht, um herauszufinden, was sie eigentlich in jener Nacht gesagt und getan hatte. Seit dieser Klassenfahrt hatten sich selbst ihre wenigen Freunde von ihr ferngehalten und sosehr sie auch bemüht gewesen war, mit ihnen zu reden – niemand wollte ihr erzählen, was genau passiert war.
Eigentlich wusste sie es erst, seit sie ein Gespräch zwischen ihrer Mutter und ihrer Oma belauscht hatte. Eleni war an dem Abend noch einmal aufgestanden, um sich etwas zu trinken zu holen, als sie ihre Mutter durch die Wohnzimmertür sprechen hörte. Sie erzählte Oma Greta, dass Elenis Lehrerin angerufen hatte – und einen Moment später sprach sie vonden Ereignissen auf der Klassenfahrt: Eleni hatte den anderen Kindern schreckliche Prophezeiungen gemacht. Sie hatte wie in Trance gesprochen und grausame Bilder von einem Erdbeben geschildert, bei dem Menschen starben. Danach hatte sie von einem Krieg erzählt, der angeblich demnächst in irgendeinem afrikanischen Land beginnen würde.
Schließlich hatte Eleni angefangen, die Kinder direkt anzusprechen: einem Mädchen hatte sie gesagt, sie sollte im Jahr 2020 nicht nach Malta fliegen, sonst würde ihr etwas Schlimmes passieren. Und ihrem besten Freund Fabio hatte sie geraten, am Mittwoch in vier Wochen nicht zur Schule zu gehen, sondern einfach zu Hause zu bleiben.
Den Kindern war Elenis Auftritt schließlich so gespenstisch vorgekommen, dass sie versucht hatten, sie zu wecken. Daraufhin hatte Eleni sie angeschrien. Sie hatte um sich geschlagen und ihnen mit bedrohlicher Stimme zugerufen, sie müssten unbedingt auf sie hören, weil es niemanden sonst gäbe, der sie warnen würde.
Die Angst der Kinder war immer größer geworden, bis sie in die Jugendherberge zurückgelaufen waren und die Lehrerin geweckt hatten.
Eleni schluckte. Für einen Moment schloss sie die Augen. Das Meer und die Tragflächen des Flugzeuges verschwanden hinter einem warmen Orange. Nur dort, wo eben noch das Wasser geglitzert hatte, flirrten jetzt gelbe Flecken unter ihren Augenlidern. Das Flirren wollte sie einlullen, wollte sie in einen tröstenden Schlaf ziehen ...
Hastig riss sie die Augen wieder auf. Sie wollte nicht schlafen. Ihr Schlaf war etwas Sonderbares, etwas, das sie am liebsten vermeiden würde.
Dabei war das, was auf der Klassenfahrt passiert war, noch nicht einmal das Schlimmste: Das Schlimmste war an dem Tag geschehen, an dem die Lehrerin ihre Mutter angerufen hatte, an dem Tag, als Eleni im Flur vor der Wohnzimmertür gestanden und gelauscht hatte. Dieser Tag war ein Mittwoch gewesen, der vierte Mittwoch nach ihrer Klassenfahrt. Nachdem ihre Mutter Oma Greta alles erzählt hatte, was Eleni den Kindern prophezeit hatte, sprach sie plötzlich von Fabio. Er war der eigentliche Grund, warum Elenis Lehrerin angerufen hatte: Fabio war an diesem Tag auf dem Rückweg von der Schule von einem Auto angefahren worden. Er war schwer verletzt worden und es war noch nicht klar, ob er überleben würde.
Eleni war aus dem Flur zurück in ihr Zimmer gelaufen. Den Rest der Nacht hatte sie weinend in ihrem Bett verbracht, und am nächsten Tag in der Schule hatten alle sie angesehen, als wäre sie schuld an der Tragödie. Nur weil sie davon gewusst hatte.
Seit diesem Tag hatte sie endgültig keine Freunde mehr. Selbst nachdem sich herausstellte, dass Fabio wieder gesund werden würde, wollte niemand mehr mit Eleni reden.
In der darauffolgenden Woche blieb sie zu Hause. Irgendwann in dieser Zeit erzählte ihre Mutter zum ersten Mal von dem Tempel. Sie breitete ein großes Luftbild auf dem Küchentisch aus, einen engen Ausschnitt von der Südküste Kretas. Es zeigte einen Felssporn, der in das Meer hineinragte und über dem Wasser in einer steilen Klippe abfiel. In der Mitte des Felssporns konnte man die Umrisse des Tempels erkennen, der dort unter der Erde liegen musste. Es war ein Bild, das offenbar im Frühling entstanden war, denn die Landschaft darauf war grün und die Phrygana-Büsche blühten inüppigen Farben. Doch inmitten des Blütenmeers zeichnete sich ein dunkelgrünes Rechteck ab, auf dem keine einzige Blüte wuchs: die mutmaßlichen Tempelmauern! Über dem Gemäuer konnten die Wurzeln nur flach in die Erde wachsen und die
Weitere Kostenlose Bücher