Insel der Schatten
alles wäre nun vorbei, erleichtert die Augen.
Doch ich stellte schnell fest, dass ich mich geirrt hatte. Nur wenig später waren sie wieder da; an der Tür zum Wohnzimmer. Aber statt der unschuldig wirkenden kleinen Mädchen in den weißen Kleidern, die kurz zuvor vor mir gestanden hatten, sah ich jetzt eine makabere Vision von Hannahs Töchtern im Augenblick ihres Todes: Drei erfrorene kleine Kinder, aus deren aufklaffenden Mündern stumme Entsetzensschreie drangen. Ich wandte mich auf der Stelle ab, nur um gleich darauf ihr Kichern durch den Raum hallen zu hören.
Dann kamen sie langsam auf mich zu. Jetzt hingen Fleischfetzen an ihren von Würmern zerfressenen, augenlosen Gesichtern, die verrottete Haut ihrer Arme löste sich bei jedem Schritt ab und fiel zu Boden, und ihre weißen Kleider starrten vor Schmutz und Fäulnis. Sie sahen aus, als wären sie gerade eben erst aus ihren Gräbern auferstanden.
»Ihr jagt mir keine Angst ein!«, schleuderte ich ihnen entgegen, doch meine zitternden Beine straften meine Worte Lügen. Was würden sie tun, wenn sie bei mir angelangt waren? Was würde ich tun? Ich versuchte, aus dem Raum zu fliehen, stellte aber fest, dass ich mich nicht von der Stelle rühren konnte. War es Furcht oder etwas anderes, das mich lähmte?
Meine Gedanken überschlugen sich. Iris hatte gesagt, ich könnte die Mädchen zwingen, das Haus zu verlassen. Aber wie bloß? Ich dachte an die Geschichten, die sie mir erzählt hatte, dachte an Hannah und Simeon, an die alte Hexe Martine und Iris’ Cousine Jane, die von diesen kleinen Dämonen über den Klippenrand gejagt worden war. Ich dachte an Charles, den seine Tiere beschützt hatten, und an Amelia und die ungeborenen Kinder, die sie als Folge der Stürze verloren hatte. Ich dachte an meine Mutter und meinen Vater, die die Furcht vor den Mädchen auseinandergebracht hatte, und schließlich an die arme Julie, deren letzte Momente auf dieser Welt von nacktem Entsetzen und dem Kampf gegen unsichtbare Gegner beherrscht worden waren. Und plötzlich – woher, weiß ich selber nicht genau – kam mir eine Idee.
Ich rief laut die Namen meiner Verwandten, wieder und wieder, als wären es Beschwörungen: »Hannah, Simeon, Charles, Amelia, Madlyn, Noah!« Dann fuhr ich zu den Mädchen herum, deren unheimliche Gestalten mir immer näher kamen. »Jetzt ist endgültig Schluss!«, grollte ich mit so viel Entschlossenheit, wie ich aufzubringen vermochte.
Und dann sah ich meine Vorfahren so klar und deutlich wie Spiegelungen auf der Oberfläche eines stillen Sees neben mir schweben. Hannah und Simeon, Charles und Amelia und, mir stockte der Atem, meine eigenen Eltern. Die Mädchen mussten sie ebenfalls gesehen haben, denn sie legten augenblicklich ihre grausigen Masken ab und verwandelten sich wieder in die unschuldigen Kinder, die sie einst gewesen waren.
»Ihr geht jetzt!«, verkündete ich erneut. »Ihr seid sehr lange sehr ungezogen und böse gewesen und habt dieser Familie unbeschreibliches Leid zugefügt.«
»Aber Halcyon …«, begann Penelope.
»Nichts aber!« Ich deutete auf meine Vorfahren. »Schaut! Eure Eltern warten auf euch.«
Während ich sprach, sah ich, wie Hannah und Simeon die Arme ausbreiteten. »Kommt her, Mädchen!«, rief Hannah ihren Töchtern zu. »Zeit, ins Haus zu gehen. Draußen wird es kalt.«
»Mommy!«, rief Penelope, als die drei Mädchen auf ihre Eltern zuliefen. »Wo wart ihr denn? Wir haben euch so lange gesucht!«
Und dann waren sämtliche Erscheinungen verschwunden. Verflogen wie Nebel, wenn die Sonne am Himmel höher steigt. Es war endgültig vorbei.
33
Im Frühling unternahm ich mit den Hunden einen Spaziergang zur anderen Seite der Insel und sah auf dem alten Friedhof vorbei. Ich beschloss, mich ein wenig um die Gräber meiner Verwandten zu kümmern, Unkraut zu zupfen, die Grabsteine abzuwischen und ihnen ein paar Neuigkeiten mitzuteilen: Will und ich waren nach wie vor glücklich und verliebt. Vielleicht würden wir sogar eine neue Generation gründen, deren Geschichten dann die ihren fortsetzen würden.
In der darauffolgenden Nacht hatte ich einen äußerst seltsamen Traum: Ich war wieder auf dem Friedhof, zwischen den Gräbern meiner Ahnen. Mein Blick fiel auf den Grabstein von Iris’ Mutter. Als ich mich bückte, um ein paar Grashalme auszurupfen, spürte ich, wie eine kühle Brise über mich hinwegstrich.
»Na, bei der Grabpflege?«
Ich wirbelte herum – und traute meinen Augen nicht.
»Iris? Großer
Weitere Kostenlose Bücher