Insel meiner Traeume
Zorn war belanglos. Sie musste ihn finden. Dann würde er sie anhören und ihr helfen. Unerschütterlich glaubte sie an ihren Erfolg. Einen Fehlschlag würde sie nicht hinnehmen.
Vielleicht wusste der illustre Lord Alex Haverston Darcourt, Marquess of Boswick, Earl of Letham, Baron Dedham nicht, dass Lady Joanna Hawkforte über gewisse Möglichkeiten verfügte, von ihrer Hartnäckigkeit abgesehen. In der gehobenen Londoner Gesellschaft mochte es ihr an Verbündeten mangeln, weil sie diese Kreise mied. Aber sie besaß genug Geld, um sich mittels schlichter Bestechung die wichtigste Einladung der Saison zu beschaffen. Außerdem hatte sie einen listigen kleinen Mann engagiert, der das Haus des Lords beobachtete, um ihr über dessen Aktivitäten zu berichten. Sobald Joanna hörte, er sei zum Carlton House aufgebrochen, fuhr sie unverzüglich dorthin.
Während sie ihre Suche fortsetzte, verbarg sie ihre Ungeduld. Vor langer Zeit, scheinbar in einem anderen Leben, hatte ihre geliebte Mutter ihr die Sprache des Fächers beigebracht. Angeblich von einer klugen spanischen Dame entwickelt, gestatteten die verschlüsselten Botschaften eine umfangreiche, vor neugierigen Ohren geschützte Verständigung. Aber nicht vor aufmerksamen Augen, dachte Joanna und entfaltete den exquisiten, von ihrer Mutter geerbten Fächer aus bestickter elfenbeinweißer Seide. Er passte gut zu ihrem altmodischen grünen Seidenkleid, dessen Farbe ihre haselnussbraunen Augen und das honigblonde Haar betonte. Doch solche stilistischen Feinheiten waren nicht der Grund dafür gewesen, den Fächer mitzunehmen. Vielmehr war sie einer Eingebung gefolgt, in der Hoffnung auf moralischen Beistand. Ihre Mutter und ihr Vater lagen schon sehr lange unter der Erde, und ihr einziger Verwandter war an einer fernen Küste gestrandet und seitdem verschollen. Nun stärkte der Fächer, den sie fest in der Hand hielt, ihren Mut. Für einige Sekunden schloss sie die Augen, öffnete sie wieder und starrte über die elfenbeinfarbene Seide hinweg einen ungewöhnlich attraktiven Mann an. Vor lauter Verwirrung rang sie nach Atem.
Zunächst sah sie sein Profil. Seine klaren, klassischen Züge erinnerten sie an die Statuen, die sie vor fünf Jahren gemeinsam mit Royce in Athen bewundert hatte - die
hohe Stirn unter dichtem nachtschwarzen Haar, die Adlernase, die vollen Lippen, das markante Kinn... Zweifellos vermochte sich dieser Gentleman mit den schönsten, in Marmor verewigten griechischen Göttern zu messen.
Nicht dass kalter Stein ihm gerecht werden könnte, denn er strahlte ungeheure Vitalität aus, eine Männlichkeit, die Joanna in einen seltsamen Bann zog. Plötzlich wandte er sich in ihre Richtung, und sie sah seine sonnengebräunte Haut. Über leuchtenden Augen, die - sogar aus der Ferne betrachtet - den Ausdruck eines Jägers zeigten - schwangen sich schwarze Brauen nach oben. Statt der farbenfrohen höfischen Mode zu gehorchen, trug er Schwarz, nur von weißer Spitze am Hals und an den Handgelenken aufgehellt. Diese zarten Rüschen hoben seine faszinierende Männlichkeit noch hervor.
Größer als alle anwesenden Aristokraten, hielt er den Kopf hoch, und seine natürliche Würde harmonierte perfekt mit seiner körperlichen Kraft, die auch die Kunst seines Schneiders nicht verbergen konnte. Mühelos übertrumpfte seine majestätische Erscheinung die königlichen Hoheiten, die sich im Ballsaal aufhielten, den korpulenten Prinzregenten ebenso wie dessen französische Freunde im Londoner Exil.
Ja, er war anders. Fremdartig. Und wenn man den Legenden glauben durfte, alterslos.
Trotzdem ist er auch ein Engländer, dachte Joanna. Daran erinnerte sie sich in diesem Moment mit einer gewissen Erleichterung.
Als er lächelte, entdeckte sie die Frau an seiner Seite, die ihn offensichtlich amüsierte - eine sehr schöne Dame mit glänzendem braunem Haar. Ein scharlachrotes, tief dekolletiertes, fließend geschnittenes Kleid aus seidiger Baumwolle im Tunika-Stil brachte ihre wohlgeformte Figur vollendet zur Geltung.
Allzu lange dauerte es nicht, bis Joanna einen Namen mit diesem exquisiten Gesicht verband: Lady Eleanor Lampert, die berüchtigte Witwe, die sämtliche Konventionen mit Füßen trat und gerade deshalb von der Gesellschaft bewundert wurde. Von einer kapriziösen Gesellschaft, wie man einschränkend betonen musste... Und manche Leute, die diesen Kreisen angehörten, neigten zur Grausamkeit.
Sicher ist es besser, wenn ich mich auf den Gentleman konzentriere,
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