Insel meines Herzens
namenlos gewesen.
Jetzt gibt es einen Namen, dachte er und legte die Statue behutsam in eine längliche, mit Samt ausgekleidete, eigens für die Beförderung hergestellte Kassette. Sie sollte in der letzten der Truhen liegen, die man aus seiner Kabine tragen würde. Nach zwei Wochen auf dem Meer – ein Sturm hatte sich vor der Küste Großbritanniens zusammengebraut und die Reise verlängert – änderte sich der Rhythmus des Schiffs, als es die Themse erreichte. Die Flut schwoll an, hob den breiten Fluss und die Seefahrer empor. Mit jedem Tag, den sie weiter nach Norden gesegelt waren, hatte die feuchte Kälte des frühen Winters zugenommen. Und nun milderte sie sich ein wenig, während Atreus und sein Gefolge von dicht bewaldeten Ufern umarmt wurden. Trotzdem hatte er nie zuvor eine so frostige Luft gespürt. Zudem wehte sie fremdartige Gerüche heran – keine unangenehmen Aromen. Aber sie weckten Gedanken an die über tausend Meilen, die ihn von seiner Heimat trennten.
Welch eine große Entfernung... Doch er hatte bereits eine weitere Reise hinter sich, nicht in dieser Welt, sondern auf dem Weg zur nächsten. Vor sechs Monaten war er dem Tod sehr nahe gewesen, in einem Chaos aus Verrat und Gewalt. Die Erinnerung blieb bestehen – nicht in seinem vollends genesenen Körper, nur in seinem Geist, wo sie einen längst gefassten Entschluss stählte und seine Ungeduld schürte. Erst wenn der Zweck dieser Fahrt erfüllt war, konnte er sich in die Richtung wenden, die er einschlagen musste.
»Das letzte Gepäckstück, Castor«, erklärte er und überreichte seinem Kammerdiener, der neben den gepackten Truhen wartete, die kleine hölzerne Kassette.
»Sehr wohl, Vanax. Vermutlich wird unser Schiff bald anlegen.«
»Dann ist es gut, dass ich angekleidet bin.« Atreus schaute an sich hinab und unterdrückte ein Lächeln. »Das bin ich doch, nicht wahr?«
Aufmerksam musterte Castor seinen Herrn. »Ja, ich denke schon, Vanax. Zumindest wurden Prinz Alexandros Anordnungen befolgt, und alles scheint sich da zu befinden, wo es sein muss.«
Atreus nickte. Von seinem Halbbruder, einem halben Engländer, hatte er diese Kleidungsstücke erhalten und erfahren, wie man sie tragen musste. Was Alex’ Fachkenntnisse in solchen Dingen betraf, hegte der Vanax keine Zweifel, wenn er auch überlegte, warum man so viel umständliche Arbeit darauf verwandte, sich anzuziehen.
Entgegen seiner Gewohnheit trug er eine Unterhose aus Leinen, die von der Taille bis zu den Knien reichte; Leinenstrümpfe; glänzende, kurze schwarze Lederstiefel; eine eng sitzende Hose aus fein gewobener Wolle, dunkelbraun gefärbt; ein weißes Leinenhemd mit gestärkten Manschetten an den Handgelenken und einem ebenfalls gestärkten spitzen Kragen, von der Krawatte umwunden, die er mühsam zu knoten gelernt hatte; eine hellbraune Weste mit gleichfalls hohen Kragen und dezenter Stickerei aus dunklen Goldfäden; ein dunkelbraunes Jackett mit abgerundeten Vorderschößen vervollständigte den Aufzug.
Allein schon die Menge und die Vielfalt der Kleidungsstücke verblüfften ihn. Sicher konnte man sich auf einfachere Weise vor der winterlichen Kälte schützen. Aber jetzt wurde er von wesentlich mehr Stoff umhüllt als je zuvor in seinem Leben. Absurderweise kam er sich wie eines der mehrfach eingewickelten Pakete vor, die freudestrahlende Kinder an ihren Namenstagen bekamen.
»So schlimm ist es nicht, Vanax«, meinte Castor, sichtlich dankbar, weil ihm ähnliche Qualen erspart wurden. Um seinen Herrn zu trösten, fügte er hinzu: »Im Lauf unserer kriegerischen Ausbildung lernen wir, unsere äußere Erscheinung der jeweiligen Landschaft anzupassen, um uns zu tarnen. Vielleicht fühlen Sie sich besser, wenn Sie Ihre derzeitige Kleidung aus diesem Blickwinkel betrachten.«
»Gewiss, das wäre möglich. Danke, Castor. In ein paar Minuten gehe ich an Deck.«
Nachdem sich der Kammerdiener entfernt hatte, trat Atreus in die Mitte der Kabine und verharrte unbewegt. Hoch gewachsen und breitschultrig, von der geschmeidigen Kraft eines Kriegers erfüllt, pflegte er körperliche Aktivitäten dem Müßiggang vorzuziehen. Und doch – es gab Momente...
Gleichmäßig atmete er ein und aus, die dunkelbraunen Augen mit den goldenen Glanzlichtern geschlossen. Die Fähigkeit, sich von den Ablenkungen der Welt zu lösen, verdankte er jahrelanger Übung. In der Kindheit war er einem Weg gefolgt, den er nur undeutlich gesehen hatte, später etwas klarer, während der von Castor
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