Insel meines Herzens
sachlichem Ton ein und wünschte, ihr Herz würde ebenso ruhig pochen und ihrem Gehirn den Sieg gewähren. Wenigstens ihr Verstand würde sie niemals im Stich lassen. »Er hat sich dem Ritus der Wahl freiwillig unterzogen.«
»Ja, das ist wahr«, bestätigte Kassandra, »wenn man es oberflächlich betrachtet. Doch ich glaube, in Wirklichkeit hatte er keine Wahl. Er kannte seine Berufung.«
Tatsächlich? Da war sich Brianna nicht sicher. Vielleicht hatte Atreus etwas geahnt oder empfunden. Doch sie betrachtete die mysteriöse Prozedur, nach dem die akoranischen Herrscher gewählt wurden, eher skeptisch. Dies alles verbarg sich in Legenden und Mythen, umhüllt von Geheimnissen und gewisperten Andeutungen. Jener unergründlichen Tiefe entströmte eine ungeheure Macht, die das Leben oder Schicksal jedes einzelnen Akoraners zu kontrollieren schien. Und doch wusste fast niemand darüber Bescheid.
»Wir müssen ihm helfen, ein bisschen Muße zu finden«, entschied Kassandra, »obwohl es uns schwer fallen wird. Mittlerweile haben es Joanna und ich aufgegeben, die Einladungen zu zählen. Tag für Tag treffen sie stapelweise ein.«
»Ja, die Londoner Gesellschaft ist ganz aus dem Häuschen«, meinte Royce trocken. »Wahrscheinlich hat Atreus nicht die leiseste Ahnung, was ihn erwartet...«
»Bald wird er’s merken«, entgegnete Kassandra und runzelte die Stirn. »Morgen Abend muss er den Empfang im Carlton House besuchen. Und danach werden sich alle um ihn reißen.« Als ihr ein neuer Gedanke durch den Sinn ging, erhellte sich ihre Miene. »Übrigens, Brianna, dein Kleid für morgen ist zauberhaft, Madame Duprès hat sich selbst übertroffen.«
Unwillkürlich erschauerte Brianna ein wenig. Sie war den beiden Ehepaaren, die ihr den Aufenthalt in England ermöglichten, von ganzem Herzen dankbar. Hier hatte sie das Licht der Welt erblickt, aber bis zu ihrer Ankunft in London, am Anfang dieses Jahres, wie eine Akoranerin gedacht und gefühlt. Und dann hatten sich neue Fragen gestellt, eine unerwartete Sehnsucht war erwacht und drängte sie, eine Antwort zu suchen, den inneren Zwiespalt zu beenden. Doch sie passte sich nur mühsam der englischen Gesellschaft an. Für deren eigenartige Forderungen fehlte ihr die Geduld. Trotzdem wollte sie weder sich selbst noch ihre Gastgeber enttäuschen.
»Madame Duprès ist eine Tyrannin«, behauptete sie, »aber ein Genie, sobald es um Seide und Satin, Samt und Spitze geht. Deshalb müssen wir ihr wohl oder übel einiges zubilligen.«
»Stimmt es, dass du sie mit ihrer eigenen Nadel gestochen hast?«, fragte Kassandra.
In gespielter Unschuld zog Brianna die Brauen hoch. »Da musst du die Nadel fragen.«
Obwohl Royce lachte, fiel ihr sein prüfender Blick auf. Diesem Engländer entging fast nichts. Ebenso wie Alex war er groß und kräftig, in bester körperlicher Verfassung, beide erreichten ihre Ziele, ohne viel zu diskutieren oder irgendjemanden unter Druck zu setzen.
Und Atreus...
Der Vanax, der ihr Volk beherrschte und – so widerstrebend sie das auch zugab – sie selbst... Aus einem anderen Blickwinkel durfte sie ihn nicht betrachten, trotz der verräterischen Regungen in ihrem Herzen. Stünde er neben den zwei anderen Männern, würden sie alle wie Brüder erscheinen, so sehr glichen sie einander in ihrer Größe und Stärke. Genau genommen waren Atreus und Alex Halbbrüder. In ihren Adern floss das Blut einer akoranischen Prinzessin. Nur Atreus stammte auch von einem akoranischen Vater ab, der Spross einer Familie, die ihr Erbe durch mindestens dreitausend Jahre stolzer akoranischer Geschichte zurückverfolgen konnte. Falls Brianna den Legenden glaubte – was nicht zutraf –, vereinte ihn zudem ein unsichtbares Band mit dem Land, dem Meer, der akoranischen Luft auf eine Art und Weise, die das Verständnis gewöhnlicher Sterblicher überstieg.
Kein Wunder, dass sein Wort als Gesetz galt, dass man seine geringfügigsten Launen ehrfürchtig berücksichtigte... Das, was Brianna für ihre gesunde britische Vernunft hielt, begann dies alles zu verachten.
Nun fuhren die Kutschen durch das Tor der Mayfair-Residenz, die sie zusammen mit Alex und seiner Gemahlin Joanna bewohnte. Kassandra und Royce stand stets ein Gästezimmer zur Verfügung, das sie derzeit nutzten. Für die Dauer seines Aufenthalts in London würde auch der Vanax hier einziehen. Um das zu bekunden, flatterte das königliche Banner Akoras über den breiten Marmorstufen.
Brianna stieg aus dem Wagen und schaute
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