Inselzauber
mich, wie ich finde, besorgt an.
Dann kann ich die Tränen nicht länger zurückhalten. Tränen, die ich in Hamburg nicht hatte vergießen können, weil ich nicht wusste, wo ich dies ungestört hätte tun sollen, ohne in dieser Wohnung zu sein, die nun nicht länger mein Zuhause ist. Die Wohnung, in der nun wohl bald Melanie Einzug halten und triumphierend ihren schwangeren Bauch vor sich hertragen wird. Vermutlich verteilt sie bereits überall Ultraschallaufnahmen. Eine Frau wie sie pinnt sicher das erste Bild ihres Kindes an die Kühlschranktür, stolz auf das, was die Natur da in ihr hervorbringt, weil sie sonst nichts anderes hat, worauf sie blicken kann.
Aber wie ist das mit mir? Was kann ich eigentlich?, frage ich mich plötzlich und rolle mich in Embryohaltung auf der Decke zusammen. Wie war es eigentlich bislang, mein Leben, auf das ich vor kurzem noch so stolz war? War ich nicht total auf Stefan fixiert? Habe ich mich nicht komplett über IHN definiert? SEINE Pläne unterstützt? Sie sogar FINANZIERT ? Mich mit SEINEN Interessen identifiziert? Mit SEINEN Freunden Umgang gepflegt? Nichts EIGENES gehabt, außer einem Job, der mir keinen Spaß macht und mich auch nicht erfüllt?
Ich habe ja noch nicht einmal eine beste Freundin, denke ich nun und schnüffle in mein Taschentuch, das ich, seit es Melanie gibt, immer griffbereit bei mir trage. Wie sehr ich Bea und Veronika beneide! Auch wenn die beiden auf den ersten Blick eine etwas skurrile Kombination sind – und zwar nicht nur äußerlich. Bea ist die Kluge, die Strenge, die alles Hinterfragende. Vero die ewig Gutgelaunte, Weiche, Warmherzige, manchmal aber auch ein wenig einfach Gestrickte. Sie weiß nicht viel von der Welt. Ihr Kosmos ist diese Insel, ihre Familie, der Hof. Und Bea. Vero ist das totale Gegenteil zu meiner mutigen, starken und abenteuerlustigen Tante: übervorsichtig, ängstlich, stets auf Sicherheit bedacht.
Mir ist überhaupt nicht klar, wie Bea es geschafft hat, ihre Freundin, die außer Kiel und Hamburg nichts weiter von Deutschland, geschweige denn von Europa gesehen hat, zu überreden, eine Weltreise mit ihr zu unternehmen. Das muss ich Bea unbedingt fragen, nehme ich mir fest vor, während mich eine Welle des Selbstmitleids unerbittlich überrollt.
Wie schön wäre es, jetzt eine gute Freundin zu haben, denke ich. Denn Bea und Vero sind in ein paar Tagen auf hoher See und kommen erst in drei Monaten wieder. Wir können kaum telefonieren, allerhöchstens mal mailen oder uns mit ein paar knappen SMS auf den neuesten Informationsstand bringen. Wer wird mich trösten, wenn ich nachts weinend im Bett liege, weil es mir vor Sehnsucht nach Stefan fast das Herz zerreißt und ich die Bilder von ihm und Melanie nicht aus dem Kopf bekomme?
Wie aufs Stichwort leckt Timo mir mit seiner rauhen Hundezunge die Hand, die über den Bettrand baumelt. Hund müsste man sein, überlege ich. Tiere denken angeblich nicht und haben auch keine Seele. Obwohl ich das gar nicht glauben kann … Wenn man Timo so betrachtet, in seine großen, dunkelbraunen Hundeaugen schaut und er den Kopf schief legt, sieht es immer so aus, als verstehe er einen. Sobald es mir wieder bessergeht, werde ich in Erfahrung bringen, wer so einen Mist über Tiere verbreitet, und gegen denjenigen vorgehen. Jawohl!
Bei dem Gedanken daran, wie ich womöglich anlässlich eines Symposiums eine flammende Rede halte, die beweisen soll, dass die Tierforschung irrt und nur ich, Larissa Wagner, die einzig Wissende bin, muss ich schon wieder ein wenig grinsen. Denn erstens bin ich nicht der Typ, der kluge Reden schwingt, schon gar nicht vor vielen Zuschauern, und zweitens wäre ich viel zu faul, um mich ernsthaft in die Materie zu vertiefen. Diese partielle Faulheit hat mich auch eine Ausbildung als Hotelkauffrau beginnen lassen, anstatt nach dem Abitur zu studieren.
Tja, fasse ich mich nun sozusagen an die eigene Nase – was unterscheidet dich an dieser Stelle eigentlich von Melanie? Die ist immerhin schwanger geworden, und das ist doch schon mal was. Zumindest wenn man zu dem Typ Frau gehört, deren Ziel es ist, eines Tages Ehefrau und Mutter zu sein. Melanie hatte wenigstens ein Ziel – ich dagegen habe momentan keines, so wie es aussieht.
Über diesem traurigen Gedanken muss ich wohl eingeschlafen sein, denn als ich wieder auf die Uhr sehe, ist es 19.50 Uhr und stockdunkel im Zimmer. Nur der Mond lugt hinter einer kahlen Baumkrone hervor und wirft einen schmalen Lichtstreifen in den
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