Inspector Jury bricht das Eis
Rules im Vergleich zu White’s, das Browns im Vergleich zum Ritz, das Boodles im Vergleich zum Turf Club.
Dabei würde Richard Jury, das wußte Melrose nur zu gut, keinen Fuß in diese Clubs setzen, es sei denn aus beruflichen Gründen. Und Melrose bezweifelte, daß sich dort jemals etwas ereignete, was Scotland Yard auf den Plan rufen würde. Allenfalls konnte die Massierung all dieser hinter den Ausgaben des Punch oder des Guardian zu steifen Posen erstarrten Achtzigjährigen hier und da den Besuch eines Leichenbeschauers erforderlich machen.
Grace Seaingham und Jury machten die anderen offensichtlich reichlich nervös. Niemand schien zu verstehen, warum dieser bon vivant von einem Superintendent mit ihnen an einem Tisch saß; außer Agatha, die – allerdings erfolglos – versuchte, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, machten alle einen schuldbewußten Eindruck; insbesondere Vivian, die in den letzten Tagen von einer Rolle in die andere getaumelt war: Würde sie am Trevi-Brunnen vorbeigehen oder würde sie hineinspringen? Schuldgefühle nagten an ihrem Herzen und kribbelten in den Spitzen ihrer langen, sensiblen Finger.
Nachdem das Obstsorbet serviert und verspeist worden war, legten die Gäste ein für sie völlig uncharakteristisches rüdes Benehmen an den Tag – rüde sogar nach den Maßstäben eines Parmenger, der sich – ohne abzuwarten, bis die Gastgeberin die Tafel aufhob – entschuldigte und sagte, er müsse unbedingt noch einmal einen Blick auf Graces Porträt werfen; Charles Seaingham meinte, er müsse sich um das Dekantieren einer neuen Flasche kostbaren Portweins kümmern; Lady St. Leger schützte Migräne vor und ging ihre Medizin holen, Tommy Whittaker sagte, er wolle sich ins Musikzimmer zurückziehen; Susan Assington, erschöpft von ihrer Fachsimpelei mit Lady Ardry über Gärten und ihre Pflege, wollte sich einen Augenblick auf ihrem Zimmer erholen.
Zurück blieben Vivian, die es tatsächlich fertigbrachte, ein weiteres Weinglas umzuwerfen, Agatha, Melrose, Jury und MacQuade.
«Na also, da haben wir’s», sagte Jury zu Grace.
Was hatten Sie? wollte Melrose eben fragen, als auch Grace sich erhob und alle anderen den Tisch verließen.
Nach dem Essen nahmen sie wie gewöhnlich, aber mit Verspätung, ihre Drinks im Salon ein; Marchbanks reichte das Tablett herum; Jury rauchte mit Genuß eine von Charles Seainghams exzellenten Zigarren und schlürfte seinen ausgezeichneten Cognac.
Die anderen tranken, wie Melrose bemerkte, was sie immer zu trinken pflegten. Agatha ihre fürchterliche Crème de violette; Parmenger und MacQuade Remy; Vivian ebenfalls Cognac, da sie sich mit dem bauchigen Schwenker wohl sicherer fühlte; Lady Assington und Lady St. Leger Crème de menthe; Grace Seaingham ihren Sambuca con mosca und Tommy wie üblich nichts – bis Grace Seaingham ihm zur größten Überraschung seiner Tante etwas von ihrem Sambuca anbot. «Ach, lassen Sie ihn doch, Betsy», lächelte Grace. «Das bißchen Alkohol wird ihm nicht schaden.»
Doch Elizabeth St. Leger hatte sich bereits des Glases bemächtigt: «Weiß der Himmel, was Tom alles auf der Schule treibt. Aber hier, meine liebe Grace, sollte er besser nicht in Versuchung geführt werden.» Als sie ihrer Gastgeberin das Glas zurückgeben wollte, stieß sie mit der Hand gegen die Schale mit den Christrosen, und der Likör schwappte heraus. «Oh, tut mir furchtbar leid. Heute scheint der Abend zu sein, an dem alle ihre Drinks verschütten.» Doch bevor sie auch nur ihr Spitzentaschentuch zücken konnte, hatte Jury den Likör bereits aufgewischt.
Grace lächelte versöhnlich. «Aber ich bitte Sie, es ist doch nichts passiert.» Sie stellte das leere Glas auf den Tisch zurück. «Tut mir leid, Betsy. Alles meine Schuld. Aber ehrlich gesagt, ich kann mir kaum vorstellen, daß Tommy es in der Schule wirklich so wild treibt.» Sie warf Jury einen verschwörerischen Blick zu. Jury steckte sein Taschentuch wieder ein.
Keiner hatte bemerkt, was sich hier vor aller Augen abspielte, außer den dreien, die es direkt betraf, und Melrose, der alles genau beobachtete. Ihn beeindruckte jedoch weniger der Vorgang selbst, als vielmehr die eiserne Selbstbeherrschung, mit der Lady St. Leger sich erhob und erklärte, sie wolle sich heute früh zur Ruhe begeben.
Diese Floskel drang gar nicht bis in sein Bewußtsein, weil sie hinzufügte, sie wünsche vorher noch mit dem Superintendent zu sprechen.
Elizabeth St. Leger schien nichts
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