Inspector Jury bricht das Eis
Anstalten, sie aufzuhängen, sondern stand einfach da und betrachtete ihn. Ihre Augen waren grau, nur eine Spur dunkler als seine eigenen, wie Zinn oder die Nordsee.
«Wir sind hier nicht weit vom Meer, oder?»
«Nein. Die Küste von Sunderland ist nur ein paar Meilen entfernt.» Sie legte den Kopf schräg und sah ihn weiter prüfend an. «Wissen Sie, daß wir fast die gleiche Haar- und Augenfarbe haben?»
«Ach, wirklich?» sagte er beiläufig. «Ja, jetzt, wo Sie es sagen, fällt es mir auf.» Er lächelte. «Sie könnten meine Schwester sein.»
Sein Lächeln hatte eine gänzlich andere Wirkung als gewöhnlich Sie sah plötzlich unendlich traurig aus und wandte sich ab, um seine Jacke aufzuhängen. «Und warum fahren Sie nun nach Newcastle?» fragte sie, während sie die Jacke sorgfältig über einen Kleiderbügel drapierte.
«Um meine Cousine zu besuchen. Ich soll mit ihr Weihnachten feiern. Ich habe sie seit Jahren nicht mehr gesehen; früher hat sie in den Potteries gelebt. Die Familie ist in der Hoffnung auf bessere Arbeit hierhergezogen. Ein böser Irrtum.»
Helen Minton hängte ihren Mantel an einen Haken und fragte: «Ist sie Ihre einzige Verwandte?»
Jury nickte und setzte sich. Er hatte nicht das Gefühl, erst eine Aufforderung abwarten zu müssen. Er bot ihr eine Zigarette an. Während sie sich über die Flamme beugte, hielt sie mit einer Hand den Vorhang ihres rötlichbraunen Haars zurück. «Das ist ja seltsam. Ich habe einen Cousin. Der ist mein einziger Verwandter. Er ist Künstler, ein sehr guter.» Sie wies auf ein kleines Gemälde an der Wand gegenüber – eine abstrakte Komposition in leuchtenden Farben mit scharfen Konturen.
Jury lächelte. «Anscheinend verfügen wir so ziemlich über die gleiche Erbmasse. Das Haar. Die Augen. Die Cousins. Ihr Haus gefällt mir», sagte er, machte es sich in dem tiefen Sessel richtig bequem und zog zufrieden an seiner Zigarette.
«Wir wär’s jetzt mit einem Whisky?»
«Großartig!»
Während sie mit der Ernsthaftigkeit eines Kindes, das nichts falsch machen will, die Drinks einschenkte, sagte sie: «Eigentlich ist es gar nicht mein Haus. Ich habe es nur gemietet.» Sie reichte ihm sein Glas.
«Dann stelle ich Ihnen jetzt die Frage, die Sie sicher ständig zu hören kriegen: Was hat Sie bloß hierher verschlagen?»
Das Glas in beiden Händen haltend, antwortete sie: «Nichts Bestimmtes. Ich bin zu etwas Geld gekommen, genug, um damit bequem leben zu können. Ich fand, daß dies ein schönes kleines Dorf ist, und beschloß, eine Weile hierzubleiben. Ich stelle ein paar Nachforschungen über die Familie Washington an.»
«Sind Sie Schriftstellerin?»
«Ich? Gott, nein! Es ist nur ein Zeitvertreib. Natürlich kommen auch viele Amerikaner vorbei; allerdings weniger um diese Jahreszeit. Die Washingtons sind eine recht interessante Familie; sie haben sich nach dem Dorf und dem Gut benannt, das sie mehrere hundert Jahre lang bewohnten, bevor Lawrence Washington dann Sulgrave Manor gebaut hat. Haben Sie Old Hall, das Herrenhaus, besichtigt? Ach nein, heute ging das ja gar nicht: Es ist kein Besuchertag. Sie müssen unbedingt wiederkommen. Donnerstags helfe ich dort aus: der Fremdenführer, der sonst die Besichtigungen macht, nimmt sich dann frei – und ich könnte Sie herumführen …» Ihre Stimme erstarb. «Aber wahrscheinlich werden Sie viel zu beschäftigt sein, mit Ihrer Cousine und mit Weihnachten …»
Er schüttelte den Kopf. «So beschäftigt nun auch wieder nicht.»
«Ich könnte Sie herumführen», wiederholte sie. «Das Haus gehört der Gesellschaft für Denkmalschutz. Mein Lieblingsraum ist das Schlafzimmer im Obergeschoß …» Sie hob den Blick zur Zimmerdecke und errötete heftig. Hastig fuhr sie fort: «Es gibt eine Küche, und manchmal mache ich den Leuten Tee, obwohl ich das wahrscheinlich gar nicht dürfte. Aber es gibt ein, zwei Leute, die schon öfter da waren …»
Mit argloser Miene (während er sich insgeheim diebisch darüber amüsierte, wie sie sich aus der Sache mit dem Schlafzimmer herauszureden versuchte) fragte er: «Und wenn Sie mir Old Hall gezeigt haben, darf ich Sie dann zum Dinner einladen?»
«Zum Dinner?» Sie hätte über die Einladung nicht überraschter sein können – als hörte sie das Wort «Dinner» zum erstenmal. Aber dann strahlte sie vor Freude, und ihre Befangenheit war verflogen. «Ja – gern. Das wäre nett.» Mit frisch erwachtem Eifer warf sie einen Blick ins Nebenzimmer. «Wir könnten hier zu
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