Inspector Jury bricht das Eis
plötzlich, daß seine Niedergeschlagenheit verschwunden und die zänkische Stimme in seinem Inneren endlich verstummt war. Der Schnee lag knöcheltief, aber er bemerkte es kaum. Die Autofahrt würde eine üble Rutschpartie werden, doch das kümmerte ihn wenig. Jury begann zu pfeifen.
Dennoch war ihm unbehaglich. Je weiter er sich von ihrem Haus entfernte, desto stärker wurde das Gefühl.
Und da kam ihm zum erstenmal der Gedanke, daß eine Begegnung auf dem Friedhof nicht der beste Beginn für eine Liebesgeschichte war. Seine innere Stimme wollte schon wieder loskrächzen, aber er ließ es nicht dazu kommen. Wenn er Helen das nächste Mal sähe, würde er bestimmt herausfinden, warum sie so unglücklich war.
Als er sie das nächste Mal sah, war sie tot.
2
Jury hätte auch ohne das Gejammer seiner Cousine gewußt, daß Newcastle, wie überhaupt der ganze Tyne and Wear-Distrikt die Heimstatt von Frustration, Armut, Arbeitslosigkeit und Suff war, trostlos und bedrückend. Aber er mußte es sich trotzdem an seinem ersten Abend in ihrer bescheidenen Mietwohnung anhören, während sie aus einer Wolle, die ebenso mausgrau war wie ihr Haar und ihre Augen, irgend etwas strickte und höchstens einmal die Nadeln sinken ließ, um hinaus in das Schneetreiben zu blicken, durch das Brendan wohl nie nach Hause stolpern und rutschen können würde, nachdem er wieder einmal seine Sozialhilfe versoffen hatte. Brendan war ihr arbeitsloser Mann, ein Ire mit trotzigem Blick, und im übrigen der einzige Ire ohne einen Funken Humor, den Jury kannte.
Hier konnte einem das Lachen allerdings auch vergehen: Die Nietenbude nennen wir’s , hatte seine Cousine gesagt und damit das Arbeitsamt mit seinen vielen kleinen Zettelchen gemeint, auf denen Jobs angeboten wurden, die wundersamerweise genau in dem Moment schon vergeben waren, in dem der Arbeitssuchende sich nach ihnen erkundigte. Letzte Woche haben sie eine einzige Stelle in den Minen angeboten, und über tausend Bewerber sind gekommen. Die ganzen Fabriken haben sich nur hier angesiedelt, weil die Regierung versprochen hat, sie ein paar Jahre lang zu subventionieren. Jetzt ist Schluß mit den Subventionen, und sie ziehen einem den Teppich unter den Füßen weg. Brendan sei eben einer von denen, die dabei aufs Kreuz gefallen waren. Ihm könne man das bestimmt nicht vorwerfen.
Jury glaubte ihr aufs Wort. Aber es ging ihm nicht allzu nahe, denn er hatte seine Cousine nie besonders gemocht. Seine seltenen Besuche, seine Anrufe, seine kleinen Geldgeschenke, wenn der große Seelenjammer sie überkam – das alles geschah nur aus dankbarer und liebevoller Erinnerung an ihren Vater, seinen Onkel, der ihn aufgenommen hatte, nachdem seine Mutter gestorben war. Er mochte seine Cousine nicht, weil sie immer jenseits der Realität gelebt hatte, in jenem schönen Traumland der Kindheit, wo die zertanzten Schuhe über Nacht von Elfen repariert wurden, wenn einem nicht gerade eine Fee goldene Pantoffeln schenkte.
«Außerdem könnten die Kinder weiß Gott neue Schuhe brauchen», klagte sie mit einem Seitenblick auf Cousin Richard, der daraufhin gehorsam Schuhe auf seiner geistigen Geschenkliste vermerkte.
Die Kinder fanden Schuhe zwar langweilig, aber es entging ihnen nicht, wenn jemand ein weiches Herz hatte; sie witterten die Verheißung von Geschenken so deutlich wie eine frische Nordseebrise. Und so fanden sie sich beim Einkaufsbummel am nächsten Vormittag mit den Schuhen ab, um an die wahren Geschenke heranzukommen: eine Puppe, die Star Wars -Kriegeraus Plastik, Malbücher und Süßigkeiten und ein gewaltiges Mittagessen. Die Kinder, die sich außerhalb der Reichweite ihrer Mutter sehr viel wohler fühlten, trugen alle so phantastische Namen wie Jasmine und Christobel – Namen, die man seinen Kindern gibt, wenn man ihnen nicht zutraut, daß sie sich als gewöhnliche Johns und Marys im Leben behaupten werden. Im Gewühl der Kaufhäuser hielten sie sich jedenfalls alle recht wacker, wenn auch der erwachende Forscherdrang des Jüngsten nervtötend war und die Älteste eine bedenkliche Entschlossenheit zeigte, ihrem Namen Chastity, die Keusche, Schande zu machen: Keck ließ sie ihren Blick über die Männer gleiten und machte ihnen schöne Augen wie eine rollige Katze.
Er fühlte keinerlei Bedauern, als er am Nachmittag Newcastle verließ und im Rückspiegel sah, wie die Stadt mit ihren großen grauen Steinmassen, ihren Rokokodächern, protzigen Schloten und verlassenen Werften am jenseitigen
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