Inspektor Jury steht im Regen
ein bißchen zurecht›, meint er damit im allgemeinen eine Generalüberholung, so eine Art Frühjahrsputz. Das Gesicht muß natürlich ganz weg. Und die Spuren meiner schulischen Glanztaten müssen entstaubt und entfaltet werden …» Sie wurde langsam wütend. Dollys absolute, durch ein falsches Interesse maskierte Gleichgültigkeit ihr gegenüber machte die Sachlage nur noch deutlicher. «Du hast leider nicht genügend darüber nachgedacht. Es ist schon etwas fies, meine zweifelhaften Begabungen für so etwas völlig Hypothetisches hervorzukehren.» Die Einsamkeit überflutete sie wie eine Welle. Sie hatte das Gefühl, als blicke sie wieder aufs Meer hinaus und sei nicht hier drinnen in der warmen Küche.
Dollys Schweigen angesichts dieses kleinen Ausbruchs veranlaßte Kate, sich nach ihr umzudrehen. Dolly sah genauso angespannt zum Fenster hinaus, wie Kate aufs Meer geblickt hatte.
«Dolly?»
Ihre Schwester drehte sich um. Auf ihrer reinen Haut sah Kate schwach eingeritzte Linien, beunruhigende, feine Linien.
«Was ist denn?»
«Gar nichts.» Dolly schüttelte sich und wandte sich wieder der Zeitung zu. Dann sagte sie: «Die Vorstellung, das Haus zu einer Pension zu machen, gefällt mir einfach nicht. Es ist so …»
«Kleinbürgerlich?» Kate spürte, wie ihr Ärger verflog. Sie drehte sich wieder zum Herd um. «Ich hab dadurch was um die Ohren.»
«Und was weißt du von den Leuten, die du da bei dir aufnimmst?»
«Nicht viel. Aber ich nehme ja nicht viele, weißt du.»
Ihre Schwester drapierte das lindgrüne Nachthemd über die hübschen Beine, und die veränderte Körperhaltung betonte das Spiel des Lichts auf ihren Brüsten. Es geschah unbewußt, dessen war Kate sich sicher. Auch wie sie jetzt das Streichholz an die Spitze der neuen Zigarette führte, wie sie die Wimpern senkte, sich mit der Hand über das blaßgoldene Haar strich. Dann stand sie auf, streckte sich und sagte, sie ginge jetzt nach oben, um zu baden und sich die Haare zu waschen.
Als die Pantoffeln den Korridor entlangschlappten, setzte Kate sich mit ihrem Kaffee hin, griff sich die Zeitung und warf einen Blick hinein. Fortdauer der Rezession, schockierender Anstieg der Vergewaltigungen, ein Fall von Kindesmißbrauch, ein Minister, der eine Kabinettssitzung auffliegen ließ, ein Mord in Mayfair. Immer das gleiche.
9
W IE ES SO KNARRTE und klapperte und bedenklich über der Straße schaukelte, die den Dorfanger umrundete, ließ das Schild des Gasthauses Mortal Man die Dämmerung als etwas Gräßliches erscheinen. Der auf dem zitternden Schild abgebildete Gentleman war durchaus angemessen dargestellt, auch wenn seine leeren Augenhöhlen nicht so sehr die eigene Vergänglichkeit als die des Schildes widerzuspiegeln schienen. Es war eines der alten galgenartigen Schilder, die man schon vor mehr als hundert Jahren wegen der Verkehrsgefährdung verboten hatte. Wahrscheinlich gefährdete jedoch keinerlei Verkehr das schmale Gäßchen, das der Balken mit dem daran schaukelnden Schild überspannte.
Von außen betrachtet sah das Mortal Man mit seinem schwarzweißen Tudor-Fachwerk und dem Reetdach einem englischen Landgasthof recht ähnlich. Drinnen war ein spindeldürrer, auf einer Leiter stehender junger Mann gerade im Begriff, einen dieser Balken zu Kleinholz zu verarbeiten. Als Melrose seinen Blick nach links in die Gaststube und nach rechts zum Ausschank wandern ließ, dachte er, der Gasthof würde entweder gerade abgerissen oder wiederaufgebaut. Teile der Wandverkleidung lehnten an der Theke, ein goldgerahmter Spiegel mit munteren Cupidos benötigte dringend eine neue Versilberung, und ein Buntglasfenster schien erst kürzlich mit Brettern vernagelt worden zu sein.
Auf dem Flur war es entsprechend finster, und der türkische Teppich verlief wie ein Ariadnefaden zur düsteren Treppe hin. Ein Porzellanleopard bewachte wohl den Speiseraum zu seiner Linken. Zu seiner Rechten stand ein halbmondförmiger Tisch mit einem stämmigen Mann dahinter, der sich mit einem unsichtbaren Gegner stritt, und durch den Bogengang zu Melroses Linken kam und ging das Personal des Gasthauses – ein Zimmermädchen mit kessen Locken, das vom Gentleman hinter dem Schalter seinen Lohn verlangte, was dieser mit wüster Rhetorik zurückwies; eine Frau mit Kochtopf; ein Junge mit einem Notizbuch, gefolgt von einer schlammverkrusteten Promenadenmischung; ein dürres Mädchen mit Mop und lässig-schlapper Miene und ebensolchem Gewand.
Der Hund begrüßte den neuen
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