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Inspektor Jury steht im Regen

Inspektor Jury steht im Regen

Titel: Inspektor Jury steht im Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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– wenn es auch kein Sohn geworden war – am meisten ähnelte.
    Kate hatte die fortschreitende Krankheit ihres Vaters über die Jahre verfolgt und bemerkt, wie sie sich langsam durch Gewebe und Knochen voranfraß. Dennoch war geselliges Beisammensein bis zuletzt seine eigentliche Begabung gewesen. Er trank Champagner zum Frühstück und Glenfiddich zum Tee. Krankheit und Ausschweifungen hatten einen hohlwangigen, abgezehrten Mann aus ihm gemacht, der zwanzig Jahre älter aussah, als er war, und dessen Verstand sich am Ende trübte. Er habe «Visionen», sagte er. Die Visionen waren gewöhnlich wenig schmeichelhaft für seine ältere Tochter, und zweifellos wurden sie durch den Glenfiddich gefördert.
    Was Kate überrascht hatte und was sie jetzt überwältigte, war die Gewißheit, daß alles sinnlos gewesen war. Und wenn sie die Jahre ihrer Knechtschaft als eine Art Opfer gesehen hatte, so mußte sie jetzt der Tatsache ins Auge blicken, daß es nie irgendwelche zu besänftigenden Götter gegeben hatte. Der Strand von Brighton in der Winterdämmerung und die harte, dunkle Meeresoberfläche waren nicht der Ort, der ihre entsetzliche Enttäuschung über das sich nicht einstellende Gefühl der Freiheit mildern konnte. Damit hatte sie nämlich fest gerechnet, mit diesem Gefühl der Freiheit und Ungebundenheit. Jetzt konnte sie doch überall hingehen und leben, wie es ihr gefiel. Vor dem Tod ihres Vaters hatte sie sich alle möglichen Pläne zurechtgelegt, die sie in die Tat umsetzen wollte, sobald er gestorben war. Und jetzt sah sie den Plänen und Träumen zu, wie diese unschlüssig am Rande des Meeres verweilten, als versuchten sie, auf dem Kies Halt und Sinn zu finden, wie sie sich brachen und wieder zurückwichen und sich wieder brachen. Die romantischen Phantasien wiederholten sich wie die endlos sich brechenden Wellen und waren ebenso gleichgültig und kalt. Ein dichter Nebelschleier überzog den Palace Pier und verbarg die abblätternde weiße Farbe und den Rost. Mit den Jahren war er immer düsterer und staubiger geworden, genau wie der Pavillon. Den abseits gelegenen West Pier hatte man für Besucher gesperrt. Er mußte dringend renoviert werden. In der Ferne, wie ein Schemen auf dem Wasser schwebend, wirkte er so zart und zerbrechlich, als sei er aus Streichhölzern.
    Kate stieg die Stufen zur langen Strandpromenade hinunter, vorbei an den Arkaden unterhalb der King’s Road, wo die meisten Amüsierbetriebe inzwischen geschlossen hatten. Sie nickte einem jungen Mann zu, der die Fassade des Penny Palace anstrich und leuchtendmarineblaue Säulen auf seine Vorderfront pinselte. Mit seinen alten Spielautomaten, die so viele Erinnerungen ans viktorianische Brighton wachriefen, gehörte er zu Kates Lieblingsplätzen. Als ihre Schwester noch klein war, war sie gern mit ihrem Vater am Meer entlangspaziert, vorbei an den Arkaden, und hatte ein Eis oder eine Stange Brighton Rock gelutscht. Doch weshalb ihre Schwester, die nur noch selten nach Brighton kam, jetzt hier auftauchte, war Kate ein Rätsel. Einfach spontan, hatte Dolly gesagt.
    Kate ging weiter bis zur nächsten Treppe, die wieder nach oben führte, ließ die Einkaufstasche mit den Koteletts und dem verpackten Döschen am Handgelenk baumeln und vergrub die Hände tief in den Manteltaschen. Sie spürte eine ausgefranste Naht. Immer wenn Dolly aus London kam, fielen Kate solche Dinge wie etwa ihr sieben Jahre alter Mantel oder ein unmodernes Kleid erst so richtig auf. Dolly brachte zwar keine richtigen Koffer mit, aber die vielen Taschen, die sie bei ihren Kurzbesuchen dabei hatte, waren prall gefüllt mit Kleidern, die dann nur im Schrank rumhingen, weil es für türkise Seide oder einen Fuchskragen keinen entsprechend festlichen Anlaß gab. Kate fragte sich manchmal, ob Dolly einfach in jener Zeit, als sie sich noch verkleideten oder Blindekuh spielten, stehengeblieben war.
    Warum war Dolly nur gekommen? Steckte ein Mann dahinter? Dolly hatte trotz ihrer Schönheit nie Glück mit Männern gehabt. Das heißt, vielleicht gerade deswegen. Vielleicht war sie zu schön. Vielleicht lag es am Altersunterschied, daß sie beide sich nie sehr nahe gekommen waren, und Kate vermutete, daß sie das kleine Schwesterchen, das Dolly ja einmal gewesen war, wohl beneidet hatte. Beneidet haben mußte. Doch Kate konnte sich nicht so recht erinnern, obwohl sie bei Dollys Geburt doch schon zwölf war. Eine sehr unbeholfene Zwölfjährige, die an die Stelle einer linkischen

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