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Inspektor Jury steht im Regen

Inspektor Jury steht im Regen

Titel: Inspektor Jury steht im Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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Gast, indem er nach seinem Hosenaufschlag schnappte und sich ums Verrecken nicht abschütteln ließ, bis der Besitzer ihn mit einem Tritt verscheuchte. Nathan Warboys (so hatte er sich vorgestellt) breitete über dem Schalter und unter einem Schild mit der Aufschrift Rezeption die Arme aus und wollte Melrose einen herzlichen Empfang bereiten, indem er ihn gleich in ein paar Familiengeheimnisse einweihte.
    «Und meine Sally. Ist zum Totlachen, wirklich, wie sie Nacht für Nacht anrückt, aufgetakelt bis zum Gehtnichtmehr. Hab gedacht, die bleibt mir sitzen, ehrlich, aber denkste, macht denselben Blödsinn wie die andere. Momang, Momang. Müssen hier unterschreiben, alles nach Vorschrift, mein Freund.» Worauf er ihm ein Formular zum Ausfüllen vor die Nase klatschte und derart heftig die Glocke betätigte, daß sie von der Theke sprang. Damit rief er den jungen Burschen mitsamt dem Terrier herbei, der in Erwartung seines zweiten Anschlags auf den Knöchel förmlich bebte. Während sie die enge Treppe hinaufstapften, deren Knarren und Ächzen wie ein Echo des Wirtshausschildes draußen klang, stellte sich der Junge als William Warboys vor. Der Hund hieß Osmond. Mitten während dieser quälenden Ersteigung einer bloß für eine Person geeigneten Treppe hatte Osmond sein stählernes Gebiß in die Spitze von Melroses Schuh geschlagen, und kein Schütteln konnte ihn dazu bewegen, ihn wieder loszulassen. Hob man den Schuh, hob man auch Osmond, der sich so hartnäckig daran festklammerte wie ein ohne Netz arbeitender Hochseilartist. Als William mit der Tasche nach dem Hund schlug, glitt sie ihm aus den Händen und klatschte Melrose bei ihrem Sturz in die dunkle Tiefe der Treppe gegen das Schienbein.
    Als Melrose unter dem tropfenden Strohdach des Mortal Man zum Fenster hinausblickte, rieb er sich noch immer das Schienbein und fragte sich, ob der Knochen wohl noch ganz sei. Aus seinem Kniegelenk kam wie das Echo des Wirtshausschildes ein unbekanntes, schnarrendes Geräusch.
    Er sah, daß weder der monotone Regen aufgehört noch der Nebel sich verzogen hatte. Die Bürgersteige waren verödet, die Dorfwiese auf der anderen Straßenseite leer bis auf ein paar Gänse und Schwäne, die über den Teich glitten und deren weiße Federkleider wie Totenhemden durch den Nebel zogen. Die normannische Kirche in der Mitte des Platzes wirkte verschlossen und abweisend. Er erkannte die schwach beleuchteten Fenster eines Cafés und ein paar Häuschen, die wie das Gasthaus reetgedeckt waren und so nahe beieinander standen, daß es aussah, als habe sie jemand zusammengenäht.
    Lucinda St. Clair hatte gesagt, man würde ihn um sieben zu einem Drink abholen. Er war froh, daß es eine Einladung zu einem Drink und nicht zu einer Tasse Tee war, denn die hatte er gerade gehabt. Er hatte zwar keinen Tee bestellt, aber die formlose Sally Warboys brachte ihn trotzdem. Das Steingut hüpfte auf dem in ihren unsicheren Händen schwankenden Tablett, der Tee schwappte aus der Kanne, und die Serviette wurde naß. Auch nachdem Sally das Tablett abgesetzt hatte, tropfte noch Tee aus der Kanne und klirrte noch immer das Porzellan, als zittere es vor Angst, sie könne es wieder hochheben. Melrose hatte das Gefühl, die Warboys würden ihre Energie, die sie in keine Richtung lenken, geschweige denn beherrschen konnten, einfach in die Luft entweichen lassen, wo sie dann von Stühlen, Tischen, Glas und Bestecken aufgesogen wurde. Und jetzt gaben all diese Gegenstände sie in nervösen, kleinen bockigen Sätzen und Zuckungen wieder ab. Wahrscheinlich, dachte er, würde das alles irgendwann zu einem poeschen dénouement führen, wo das Mortal Man dann wie das Haus Usher zerbarst und zusammenkrachte und zu Staub zerfiel. Jeder Hammerschlag im Stockwerk unter ihm, jedes Warboyssche Brüllen bestätigte ihm, daß seine Befürchtung etwas für sich hatte.
    Sally hart auf den Fersen, näherte sich Mrs. Warboys, eine untersetzte Frau, die sich ruckend und zuckend wie ein Schneebesen bewegte, während sie das Holzscheit in dem kleinen Kamin hin- und herstieß und dabei ein glühendes Aschestück, das sofort aufflammte, auf den verschlissenen Teppich beförderte. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, das Feuer auszustampfen, doch Mrs. Warboys ließ in ihrer Aufregung den Schürhaken auf Melroses Fuß fallen. Sie entschuldigte sich und machte sich sodann mit heftigen Bewegungen daran, eine Toilettengarnitur zurechtzurücken, wobei die beiden Flakons herunterfielen und zu

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