Inspektor Jury steht im Regen
rutschte auf seinem Stuhl hin und her und blickte auf seine Hände, als er antwortete. «Na ja, wir haben ihn eigentlich gar nicht richtig gekannt.» Das klang offensichtlich sogar in seinen eigenen Ohren äußerst seltsam, und ratsuchend blickte er in das abgespannte Gesicht seiner Frau.
Jury glaubte nicht, daß sie die Worte ihres Mannes gehört hatte. Der Tränenstrom war zwar versiegt, doch noch immer hielt sie das Taschentuch an den Mund und den Arm an den Bauch gepreßt, als müsse sie sich selber festhalten wie etwas, das zerbrochen war.
«Hat’s nie geschafft vorbeizukommen», sagte der Vater, «obwohl Ivy immer wieder gesagt hat, daß sie ihn mal zum Tee mitbringen würde.»
Der Vater ließ rasch den Blick durch das Zimmer schweifen, und Jury sah, was er sah: ein Wohnzimmer, schön aufgeräumt wie der Hof, sauber und ordentlich, aber schlicht, um nicht zu sagen schäbig. Die Couchgarnitur, wahrscheinlich durch Ratenzahlungen finanziert, die Sessel und das Sofa mit dem Teppich, den wohl seine Frau oder eine Verwandte in einer Farbkombination geknüpft hatte, die das Zimmer beleben sollte, es aber nur noch unpersönlicher erscheinen ließ.
Um dem Mann nicht noch mehr Kummer zu machen – was jetzt zwar belanglos, aber dennoch peinlich gewesen wäre –, bot Jury ihm eine Zigarette an, zündete sich selber eine an, stand auf und ging im Wohnzimmer umher. Er nickte Wiggins zu, mit der Befragung fortzufahren.
Mehrere seiner Kollegen im Polizeipräsidium hatten Jury schon gefragt, warum er in seiner Position nicht einen Detective Inspector zu seinem Assistenten mache. Jury hatte zurückgefragt, warum er das denn tun solle, und ihnen erzählt, daß der Sergeant ihm schon mindestens zweimal das Leben gerettet habe. Das war zwar die Wahrheit, aber nicht der eigentliche Grund. Jury schätzte Wiggins, weil Wiggins eine starke Verbundenheit mit jenen empfand, die man häufig mit dem Etikett Underdog versah. Sergeant Wiggins’ Gegenwart hatte etwas Tröstendes. Irgendwie vermittelte er den Zeugen das Gefühl, daß er einer von ihnen sei, daß er mit seinem Notizbuch und seinem Stift, seinen sparsamen, geradezu knauserigen Gesten, seinen langen Redepausen und mitfühlenden Blicken (die häufig nichts mit dem anstehenden Problem zu tun hatten), nicht zu vergessen mit seiner Latte von Flüchen, die jedermanns schlummernde Hypochondrie aufstörten, und mit seiner Fähigkeit, die Polizei auf den freundlichen Bobby an der Ecke zu reduzieren, extra zu ihnen gekommen sei. In einer alten Moralität wäre Wiggins der Hirte gewesen, der gekommen war, Zeugnis abzulegen. Und immer hatte er ein Taschentuch übrig.
Das er gerade eben benutzte, als er sich im kalten, nur vom Dämmerlicht erhellten Wohnzimmer gleichzeitig mit Mrs. Childess schneuzte, deren jüngster Tränenstrom sich zumindest momentan unter Kontrolle zu befinden schien. Sie hielt das Taschentuch zusammengeknüllt im Schoß. Wiggins stopfte seines wieder in die Tasche und stellte mit seiner netten, monotonen Stimme weitere Routinefragen.
Ging man von den Fotos auf dem Kaminsims aus, war Ivy anscheinend das einzige Kind gewesen. Mehrere Schnappschüsse umgaben zwei Atelierporträts. Eins der Porträts war wahrscheinlich im Alter von achtzehn oder neunzehn aufgenommen worden, eine Ganzaufnahme, auf dem sie ein paar schlaffe Rosen in der Hand hielt. Das Ende der Schulzeit vielleicht oder der Kindheit. Ihr Gesichtsausdruck wirkte ziemlich selbstgefällig und erfahren, als ob sie schon eine recht unangenehme Phase ihres Lebens hinter sich hätte. Das zweite hätte von gestern sein können. Das Haar floß ihr wie klares Wasser über die Schultern des Oberteils, das er als dasjenige wiedererkannte, das sie bei ihrer Ermordung trug, blau mit tiefem Ausschnitt und langen Ärmeln. Er stellte das Foto wieder auf das Kaminsims zurück und nahm das Gegenstück in die Hand – ein kleines, ungerahmtes Foto, ebenfalls jüngeren Datums. Jury ging wieder zu den anderen zurück und setzte sich ein wenig abseits, damit Wiggins seine Befragung fortsetzen konnte.
Die Mutter wirkte völlig erschöpft. Sie hatte die Augen geschlossen und lehnte den Kopf gegen die mit Knöpfen verzierte Sessellehne. Der Vater hatte gerade über die Arbeit seiner Tochter bei Boots gesprochen. «Sie war Kosmetikberaterin.»
Jury übersetzte es mit Verkäuferin.
«Kannten Sie irgendwelche anderen Freunde von ihr, abgesehen von dem, was Sie über den Verlobten gehört haben?»
Wieder wirkte Trevor
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