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Inspektor Jury steht im Regen

Inspektor Jury steht im Regen

Titel: Inspektor Jury steht im Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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Childess ein wenig verschämt, als er den Kopf schüttelte. «Ivy ist, solange sie bei uns wohnte, nie viel ausgegangen. Sie war keine von denen, die in Kneipen rumhängen und so was. Sie war eher häuslich wie ihre Mutter.»
    Es entstand ein Schweigen, während dessen sich Mrs. Childess erhob und das Zimmer verließ. Dann stand Jury auf, und Wiggins steckte sein Notizbuch ein. Er sagte Childess, daß man ihn bitten müsse, die Leiche seiner Tochter zu identifizieren. Das Gesicht des Mannes wurde aschfahl und ausdruckslos.
    «Es tut mir leid, Mr. Childess. Sie oder Ihre Frau müssen es tun, und ich wollte warten, bis sie sich ein wenig gefangen hat, ehe ich das überhaupt erwähne.» Jury wußte, daß er, wenn er an seine größere, männliche Stärke appellierte, dazu beitrug, ihm wieder ein bißchen Entschlußkraft zu geben. «Es hat noch Zeit, zumindest bis heute nachmittag. Wir schicken Ihnen einen Wagen vorbei.»
    Childess murmelte etwas, vielleicht ein nicht empfundenes Danke, und sagte zu Wiggins: «Dann kommen Sie also nicht selber vorbei?»
    «Tut mir leid, Sir. Wir müssen uns sofort mit den Leuten beschäftigen, die mit Ivy zusammengewesen sein könnten.» Er zog ein Päckchen Pastillen aus seiner Manteltasche. «Sie wollen doch nicht, daß dieser Husten noch schlimmer wird. Nehmen Sie die.»
    Als was es ihm auch dienen konnte, als Amulett oder als schmerzstillendes Mittel, Trevor Childess nahm das Päckchen dankbar entgegen.
     
    «Schreckliche Sache», sagte Wiggins und schlug die Tür auf der Fahrerseite zu. «Wo Ivy auch noch das einzige Kind war.» Wiggins sprach die Betroffenen immer ziemlich rasch mit Vornamen an. Das machte einen Teil seines Charmes aus.
    «Ja. Nur frage ich mich, wenn sie nun fünf oder sechs oder zehn hätten, ob das ein großer Trost wäre? Glauben Sie nicht, daß eins zu verlieren genauso schlimm ist, als wenn man alle verliert?»
    Der Motor jaulte auf, hustete asthmatisch und erstarb. Brummelnd versuchte Wiggins es noch einmal. Irgendwie verknäuelten sich in seiner Vorstellung der Tod und dieses Wetter. «Daß sie uns nichts Besseres als diesen zehn Jahre alten Cortina geben – wirklich unglaublich», sagte er düster, während er den Wagen zu starten und die Heizung anzustellen versuchte.
    «Wer ist Marr?»
    «David L. Geheimnummer, und ich dachte schon einen Moment, ich müßte das Präsidium anrufen, um die Adresse rauszukriegen. Bis die blöde Vermittlerin sie dann schließlich doch rausrückte.» Der Motor sprang an, und er fuhr los. «Auf nach Mayfair also. Ich habe ihn nicht angerufen. Dachte mir, Sie wollen ihn sicher nicht vorwarnen.»
    «Gut. Wo in Mayfair?»
    «Shepherd Market.» Er nahm die Hände vom Lenkrad und hauchte sie an. «Nicht weit vom Running Footman, oder?»
    «Richtig. Wie lang ist das zu gehen?»
    Wiggins dachte einen Moment lang nach. «Zehn Minuten vielleicht. Aber bei diesem Dreckswetter ist er sicher nicht zu Fuß gegangen.»
    Trotz des bevorstehenden Besuchs und der Kälte lächelte Jury. Der Neuschnee überzog die verrosteten Autoteile, umrahmte die grell gestrichenen Vorbauten und Zäune und verhüllte die Schäbigkeit der vor ihnen liegenden Straße. Blau und unberührt lag er im Morgenlicht. So unberührt schien er die Häuser und Zäune miteinander zu verbinden.

4
    D AVID M ARR PASSTE PERFEKT in seine Umgebung. Er wirkte elegant, aber verwahrlost. Der Verschluß seines Morgenmantels war so abgeschabt wie der Axminster-Teppich und die Gürtelschnur so zerschlissen wie die mit Troddeln verzierte Kordel, die den chinesischen Seidenvorhang zurückhielt. Die am Mantel hing etwa im gleichen Winkel herab wie Marrs Kopf. Um sechs Uhr früh befand er sich wahrscheinlich noch in den Klauen eines ausgewachsenen Katers.
    Kater hin oder her, der Mann sah gut aus. Jury meinte etwas vage Vertrautes in den hohen Backenknochen und dem dunklen Haar zu entdecken, vielleicht war es aber auch nur die Sorte von Gesicht, die zu einem etwas leichtlebigen Aristokraten paßte und die man in den schmierigeren Boulevardblättern so oft im Zusammenhang mit Sex, Drogen und Mädchen zu sehen bekam.
    Im Moment lümmelte sich David Marr auf einem abgenutzten ledernen Ohrensessel. Seine erste Reaktion auf den Mord an Ivy Childess war eher Verblüffung als Schmerz gewesen. Seine zweite, dritte und vierte hatte Jury nicht sehen können, da ein kalter Waschlappen Marrs Gesicht vollständig verdeckte, auch noch während der Fragen, die ihm Jury bisher gestellt hatte.

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