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Inspektor Jury steht im Regen

Inspektor Jury steht im Regen

Titel: Inspektor Jury steht im Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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aus dem oberen Stock mehrfach ein leichtes Rumoren zu hören war.
    «Das ist nur eine Warboys, die Ihr Zimmer herrichtet», sagte Melrose.
     
     
     
    «W ILLKOMMEN ZU EINEM A BEND mit den Warboys in voller Aktion.» Melrose ordnete sein Besteck und steckte sich die verschlissene Serviette in den Kragen.
    Jury kniff die Augen zusammen. «Noch nie im Leben habe ich Sie mit einer Serviette unterm Kinn essen sehen.»
    «Weil Sie mich noch nie bei den Warboys haben essen sehen.» Er hob sein Brötchen, merkte, daß es steinhart war und schlug mit dem Griff seines Messers drauf. «Da!» Das Brötchen zersprang und zerbröselte auf dem Teller. «Die Warboys haben gewalttätige Neigungen bei mir freigesetzt.»
    «Dann essen sie also mit uns?» fragte Jury, der unter den Tisch gefaßt hatte, um Osmond hinter den Ohren zu kraulen.
    «Wahrscheinlich.» Melrose hob den Rand des Tischtuchs, um nach dem Jagdhund zu sehen, der glücklich zu Jurys Füßen ein Nickerchen machte. «Der Hund muß tot sein.»
    Das Speisezimmer wirkte festlicher als sonst, und sie waren nicht die einzigen Gäste. In der gegenüberliegenden Ecke saßen ein Mann und eine Frau, die zweifellos durch den Anschlag draußen, daß sie hier ein «Traditionelles englisches Abendessen mit allen Beilagen» erwarte, hereingelockt worden waren. Die Warboyssche Vorstellung von «traditionell» hatte wahrscheinlich mehr mit Sainsbury-Sandkuchen als mit selbstgemachtem Yorkshire-Pudding zu tun, dachte sich Melrose. Er stellte fest, daß seine und Jurys Leidensgenossen recht schweigsam waren und zu den schwarzen Fensterscheiben blickten, in denen sie nichts als ihre eigenen Spiegelbilder erkennen konnten. Verheiratet, vermutete er und hoffte, daß er dem Paar nicht nur seine Klischeevorstellung überstülpte. Er fragte sich jedoch, warum verheiratete Leute immer so unbehaglich wirkten, wenn sie in der Öffentlichkeit dinierten, als hätten sie Angst, jemand könnte denken, sie kämen gerade von einem heißen Rendezvous, wenn sie sich mal ansähen.
    Eine Kette weißer Lichter beschrieb einen Bogen am oberen Fensterrand. An die Kamineinfassung waren die Strümpfe der Warboys genagelt. Melrose hatte zugesehen, wie sich Bobby Warboys energisch ans Werk machte und dabei fortwährend meckerte und plapperte, als ob er die ganze Weihnachtszeit an einen Baum nagle. Ein kleiner Weihnachtsbaum mit winzigen blinkenden Lichtern stand zwischen irgendwelchen Andenken auf einem Regal darüber – zwischen einer grünen Flasche mit Blumen und der Aufschrift Ein Geschenk aus Wells-Next-the-Sea , mehreren kleinen Fotos mit Gestalten, die nach abwesenden Warboys aussahen, einer noch lebenden und einer sich in der Agonie befindlichen Pflanze, einem ausgestopften Rotfuchs, der ein Auge auf Melrose richtete (das andere hatte Nathan ihm wohl rausgeschossen), einer Schale mit Plastikobst, dessen Trauben, wie Melrose meinte, diesem Wein wohl seine spezielle Würze verliehen. Neben der Speisezimmertür saß ein schielender, lamettageschmückter Porzellanleopard. So wie es aussah, lauter bei einem Ramschverkauf aussortierte Reststücke.
    «Wo bleibt unsere Suppe?» sagte Melrose und drehte sich um, um zur Küche zu starren.
    Wie auf ein Stichwort kam Mrs. Warboys mit zwei Tellern Suppe herausgestürmt. Klein, dick, blaß, hatte die Küchenkatastrophe sie in eine zitternde, aschgraue Masse verwandelt. Sie erinnerte Melrose an einen verrückten Mandelpudding. Die Suppe schwappte an den Schalenwänden hoch, als sie sie vor ihnen absetzte und die Auswahl an Hauptgerichten verkündete: «Kalbskotelett, Wiener im Schlafrock und Bombay-Ente.» Sie ließ den Blick nach rechts und links schießen, um zu sehen, wie sie es aufnahmen.
    Melrose sah Jury an, der sagte: «Oh, zuerst Sie.»
    «Ich versuche mal die Bombay-Ente, wenn das auch kaum meiner Vorstellung von einem traditionellen Weihnachtsessen entspricht. Ich hatte eher an so was wie ein schönes, nicht durchgebratenes Roastbeef gedacht.» Er lächelte so angestrengt, daß er schon befürchtete, Grübchen davon zu bekommen.
    «Ganz recht. Leider aus.»
    «Aus? Schon?»
    Mrs. Warboys nickte über die Schulter in Richtung des Paares am Fenster. «Die beiden hatten das letzte Stück.»
    «Aber sie sind doch die einzigen außer uns.»
    Jury, der alle die ganze Zeit über im Auge behielt, lächelte und nippte an seinem Wein. Melrose hatte die Flasche Nathans Vorrat abgerungen. Die Warboys betrachteten alles, was sie besaßen, als ganz persönlichen Schatz,

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