Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Instrumentalität der Menschheit

Instrumentalität der Menschheit

Titel: Instrumentalität der Menschheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cordwainer Smith
Vom Netzwerk:
herausstellte, daß sie keine richtigen Telepathen waren und nicht über die Fähigkeit zum vollkommenen Gedankenaustausch verfügten.
    Nach dem Alten Gesetz konnten sie dem entgehen, und viele zogen dies auch vor.
    Mit ihren gefährlichen halbtelepathischen Kräften verschrieben sie sich der Scharlatanerie und Betrügerei schlimmster Sorte, gaben vor, mit den Toten zu sprechen, trieben Neurotiker in Psychosen, heilten einige wenige kranke Menschen und verpfuschten für jeden Fall, den sie kurierten, zehn andere Fälle, deren Zustand sich verschlechterte, und vor allem störten sie die gesunde Ordnung der Gesellschaft.
    Und trotzdem, da alles andere versagt hatte …
     
     
    2. Der sekundäre Telepath
     
    Einen Tag später befanden wir uns wieder in Harkenings Krankenzimmer und hatten fast genau unsere alten Plätze eingenommen.
    Wir drei umringten die nackte Gestalt auf dem Boden.
    Bei uns war noch eine vierte Person, ein Mädchen.
    Timofeyev hatte sie aufgetrieben. Sie war Mitglied seiner Religionsgruppe, der Postsowjetischen Orthodoxen Östlichen Quäker. Man erkannte sie daran, daß sie die Alte Englische Sprache benutzten.
    Timofeyev sah mich an.
    Ich nickte knapp.
    Er wandte sich an das Mädchen. »Kannst du ihm helfen, Schwester?«
    Das Kind war schwerlich älter als zwölf Jahre. Es war ein kleines Mädchen mit einem langen, schmalen Gesicht, einem weichen, lebhaften Mund, wachen, graugrünen Augen und einem lohfarbenen Haarschopf, der ihr bis zu den Schultern reichte. Sie besaß ausdrucksvolle, dünne Hände. Sie zeigte keine Reaktion beim Anblick des nackten Mannes, der in den Tiefen des Wahnsinns versunken war.
    Sie kniete auf dem Boden nieder und sprach mit sanfter Stimme direkt in das Ohr von Colonel Harkening.
    »Kannst du mich hören, Bruder? Ich bin gekommen, um dir zu helfen. Ich bin deine Schwester Liana. Ich bin deine Schwester im Angesicht der Liebe Gottes. Ich bin deine Schwester aus dem Fleisch des Mannes. Ich bin deine Schwester unter dem Himmel. Ich bin deine Schwester, die gekommen ist, um dir zu helfen. Ich bin deine Schwester, Bruder. Ich bin deine Schwester. Wach ein wenig auf, damit ich dir helfen kann. Wach ein wenig auf, damit du die Worte deiner Schwester hörst. Wach ein wenig auf für die Liebe und die Hoffnung. Wach auf für die Liebe. Wach auf, damit die Liebe dich weiter wecken kann. Wach auf für die Menschheit. Wach auf, um zurückzukehren, um ins Reich der Menschen zurückzukehren. Das Reich der Menschen ist ein freundliches Reich. Die Freundschaft der Menschen ist ein freundliches Ding. Dein Freund ist deine Schwester mit dem Namen Liana. Dein Freund ist hier. Wach ein wenig auf, damit du die Worte deines Freundes hören kannst …«
    Als sie weitersprach, bemerkte ich, daß sie eine sachte Bewegung mit ihrer linken Hand machte und uns bedeutete, das Zimmer zu verlassen.
    Ich nickte meinen beiden Kollegen zu und neigte meinen Kopf, um sie anzuweisen, hinaus auf den Korridor zu treten. Neben der Tür blieben wir stehen, so daß wir noch immer in das Zimmer sehen konnten.
    Das Kind fuhr mit seinem endlosen Singsang fort.
    Grosbeck stand steif da und starrte es an, als sei es ein Eindringling in das ehrwürdige Gebiet der Medizin. Timofeyev versuchte süß, gutmütig und vergeistigt dreinzuschauen; er vergaß es und wirkte statt dessen aufgeregt. Ich wurde sehr müde und begann mich zu fragen, wann ich wohl das Mädchen unterbrechen konnte. Ich hatte nicht den Eindruck, daß sie sehr viel erreichte.
    Sie selbst löste das Problem.
    Sie brach in Tränen aus.
    Sie redete weiter, während sie weinte, mit gebrochener, seufzender Stimme, und die Tränen rannen aus ihren Augen über ihre Wangen und tropften auf das Gesicht des Colonels, das sich genau unter ihrem Gesicht befand.
    Der Colonel hätte ebensogut aus porzellanisiertem Beton bestehen können.
    Ich konnte seine Atemzüge verfolgen, aber die Pupillen seiner Augen bewegten sich nicht. Er war nicht lebendiger als in den vergangenen Wochen. Nicht mehr und auch nicht weniger.
    Keine Veränderung. Schließlich hörte das Mädchen zu weinen und zu reden auf und folgte uns hinaus auf den Korridor.
    Sie sprach mich direkt an. »Sind Sie ein mutiger Mann, Anderson, Sir und Doktor, Herr und Führer?«
    Das war eine törichte Frage. Was konnte jemand schon auf eine derartige Frage antworten? Alles, was ich sagen konnte, war: »Ich glaube schon. Was hast du vor?«
    »Ich brauche Sie alle drei«, erklärte sie so feierlich wie eine Hexe.

Weitere Kostenlose Bücher