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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelle Groom
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Das Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht
    Es ist aber der Glaube eine gewisse Zuversicht des, das man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, das man nicht sieht.
    Brief an die Hebräer, 11 , 1
    Morphium macht mich schwerelos, luftgetragen. Wie eine Spinne. Ich sitze an der hohen Zimmerdecke in der Ecke und blicke auf meinen Körper auf dem weißen Krankenhausbett hinab. Es ist nur eine Injektion, einmal die Nadel durch die Haut. Aber auch im neunten Monat der Schwangerschaft ist mein Körper schmal, das ganze Gewicht das des Babys. Und so ist die Wirkung der Droge ein Rausch in meinen Adern. Ich möchte gern die Straße entlanggehen mit diesem leichten Gefühl. Ich möchte Beifahrerin in einem staubigen Auto auf einem Feldweg sein und den Schleier aus Bäumen sehen, die Lichtung dahinter. Friedhof von Autos, in einer Art Kreis angeordnet. Die Motoren ausgebaut, die Fenster schmutzig und trüb. Auf dieser Lichtung, das weiß ich, könnte ich das Nichtzweifeln an dem entdecken, das man nicht sieht. Ich auf dem Bett, das Warten darauf, dass mein Muttermund sich weitet. Warten, dass er sich öffnet wie eine Tür, zehn Zentimeter weit. Dann kann ich pressen.
    »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du das zweimal durchgemacht hast«, sage ich zu meiner Mutter, nachdem ich von der Zimmerdecke heruntergekommen bin; ein Lastwagen ist im Sand stecken geblieben, und die Räder drehen unterhalb meines Bauchnabels durch. Wühlen im Sand, bleiben stecken, wühlen im Sand. Meine Mutter lacht.
    »Man vergisst das«, sagt sie. Zieht den Stuhl näher heran. Jetzt sind wir beide Mütter. In dem Kreis, den das Bett für uns beschreibt, ist sie nicht böse, dass ich nicht geheiratet habe, ist nicht über meine Sexualität entsetzt, meine biologische Verfasstheit, meinen Mangel an Selbstbeherrschung. Sie hilft mir, die Wehen zu zählen, ihre Knie in dem hellen Hosenanzug wenige Zentimeter von mir entfernt. So angezogen, unterrichtet sie ihre erste Klasse. In der Schule sitzen die Kinder im Kreis um sie herum. Einmal hat die Schule ihr einen Preis verliehen; es wurde ein Foto von ihr gemacht, wie sie an einem Baum lehnt, lächelt. Es ist 1981 . Trotz der Schmerzen bin ich froh, dass sie hier bei mir ist. Zwischen uns ist eine Unbefangenheit, als wären wir ein paar Tage zusammen verreist, wie Freundinnen. Sie ist jünger als ich heute und wird gleich ihr erstes Enkelkind halten, wird gleich erlauben, dass ich es weggebe. Meine Mutter wird es nie wieder berühren. Sie wird das Foto, das meine Tante und mein Onkel uns schicken, vergrößern und rahmen lassen und auf die Kommode in ihrem Schlafzimmer stellen. Bei der Vergrößerung sind die Lichtflecken auf dem Bild deutlicher geworden, sodass mein Sohn von leuchtenden Kreisen umringt ist, als würde nachts Schnee auf ihn fallen.
    Jetzt hat mein Sohn die Augen geschlossen. Er ist dabei, meinen neunzehn Jahre alten Körper zu verlassen. Wellen kräuseln seine Haut, die niemand berührt hat, niemand außer mir. Noch sind wir zusammen. Mein Dunkel gibt ihm Sicherheit, nährt ihn. Mein Körper macht alles richtig: Er trägt ihn, nährt ihn, singt ein Wasserlied. Mein Herz verlässlich wie ein Wiegenlied. In der Welt draußen sind meine praktischen Fähigkeiten begrenzt – ich kann weder einen Haushalt führen noch mit Geld umgehen, manchmal kann ich kaum sprechen. Aber in der Welt meines Sohnes hat mein Körper alles, was er braucht. Ich gehöre ihm.
    Lange Zeit, so kam es mir vor, hatte ich den überwältigenden Wunsch zu pressen, aber die Krankenschwestern sagten, es sei zu früh. »Nicht pressen.« Dann guckt eine Krankenschwester zwischen meinen Beinen nach und ist überrascht. »Das Baby kommt«, sagt sie. »Pressen.« Ihr Ton ist beherrscht, aber eindringlich. Sie müssen sich beeilen. Die Krankenhausleute müssen mich in den Kreißsaal bringen. Sie hieven mich auf ein Bett mit Rädern und schieben mich über den Flur in einen anderen Raum. Meine Mutter setzt sich zu meinem Vater in den Wartesaal. Ich weiß nicht, wer entschieden hat, dass ich das allein mache. Auch mein Arzt ist nicht da. Die Hände, die mich hochheben, sind hastig, gehetzt. Meine nackten Füße werden in kalte Metallbügel gelegt, was beängstigend ist. Als würde gleich etwas geschehen, das ich nur aushalten kann, wenn ich so gezügelt werde. Ein Scheinwerfer ist hell wie ein Flutlicht. Ich bin froh, dass ich pressen kann. Ein paar Minuten vergehen. Einmal schreie ich. Es ist eine Überraschung – nicht geplant, ohne

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