Instrumentalität der Menschheit
vor Augen lagen wie die Bäume oder der nächtliche Himmel. Je schlechter der Mensch, desto häßlicher das Tier – so lautete das Gesetz. Hier in der Wüste waren die Tiere sehr häßlich.
Bodidharma der Gesegnete schrak zurück.
Er wollte seine Waffe nicht einsetzen. »Oh, auf ewig gesegneter, zwischen Lotosblumen thronender Buddha, hilf mir!«
In seinem Herzen erklang keine Antwort. Die Sündhaftigkeit und Gottlosigkeit dieser Bestien war so groß, daß selbst Buddha sein Gesicht abgewandt hatte und seinem Botschafter, dem Missionar Bodidharma, keinen Schutz geben wollte.
Widerstrebend holte Bodidharma seine Querpfeife hervor.
Die Pfeife war eine zierliche Waffe und nur doppelt so lang wie der Finger eines Mannes. Golden und von seltsamer, fast häßlicher Form, kündete sie von einer Zivilisation, an die sich kein lebender Mensch in Indien mehr erinnerte. Die Pfeife stammte aus den frühen Anfängen der Menschheit, hatte ganze Zeitalter überstanden, zahllose Jahre, und nun lieferte sie Zeugnis von der Macht der alten Menschen.
Am Ende der Pfeife befand sich eine kleine Flöte. Vier Löcher verliehen der Pfeife mehrere Tonhöhen und eine große Anzahl verschiedener musikalischer Möglichkeiten.
Blies man einmal, erfüllte die Pfeife die Zuhörer mit Heiligkeit. Dies erforderte, alle Löcher zu bedecken.
Blies man zweimal und hielt die Löcher offen, kam die Macht der Pfeife zur Wirkung. Diese Macht war sonderbar. Sie verzauberte die Gefühle eines jeden Lebewesens, das sich in Hörweite befand.
Bodidharma der Gesegnete führte die Querpfeife mit, weil sie ihn beruhigte. Geschlossen erinnerten ihn ihre Noten an die heilige Botschaft von den Drei Schätzen des Buddhas, die er von Indien nach China bringen wollte. Geöffnet erfüllte die Pfeife die Unschuldigen mit Glück und die Gottlosen mit ihrer eigenen Schlechtigkeit. Ob man unschuldig oder gottlos war, wurde nicht von der Pfeife bestimmt, sondern von den Zuhörern selbst, wer immer sie auch sein mochten. Die Bäume, die diese Noten auf die den Bäumen eigene Art hörten, bohrten ihre Wurzeln noch kräftiger ins Erdreich und reckten sich majestätisch und von neuer, dumpfer Hoffnung erfüllt in den Himmel. Tiger wurden tigerhafter, Frösche froschhafter, Menschen besser oder schlechter, je nachdem, wie ihre Charaktere beschaffen waren.
»Halt!« rief Bodidharma der Gesegnete den Bestien zu.
Tiger und Wolf, Fuchs und Schakal, Schlange und Spinne kamen näher.
»Halt!« rief er erneut.
Pfote und Klaue, Stachel und Zahn, funkelnden Auges, so kamen sie näher.
»Halt!« rief er zum dritten Mal.
Noch immer kamen sie näher. Er ließ die Löcher geöffnet und blies die Querpfeife zweimal, und ihre Töne waren klar und laut.
Klar und laut.
Die Tiere verharrten. Beim zweiten Ton schlugen sie um sich, noch tiefer gefangen in der Bestialität ihrer eigenen Natur. Der Tiger verbiß sich in seine Vordertatzen, der Wolf schnappte nach seinem Schwanz, der Schakal floh ängstlich vor seinem eigenen Schatten, die Spinne versteckte sich in der Finsternis der Felsen, und die anderen unreinen Tiere, die den Gesegneten bedroht hatten, ließen ihn passieren.
Bodidharma der Gesegnete wanderte weiter. In den Straßen der neuen Hauptstadt in Anyang wurde die freundliche Botschaft des Buddhismus mit Neugier, Gelassenheit und Entzücken aufgenommen. Diese wollüstigen Barbaren, die Toba-Tataren, die sich zu den Herrschern von Nordchina aufgeschwungen hatten, erfüllten ihre Herzen und Seelen nun mit der Hoffnung des Todes statt mit der Furcht vor der Zerstörung. Mütter weinten vor Freude, da sie nun wußten, daß ihre gestorbenen Kinder in die Glückseligkeit eingegangen waren. Der Eroberer selbst legte sein Schwert beiseite, um der frohen Botschaft zu lauschen, die so mutig die unendlichen Berge überwunden hatte.
Als Bodidharma der Gesegnete starb, wurde er in den Außenbezirken von Anyang begraben, und seine Querpfeife legte man in ein geweihtes Gefäß aus Onyx neben seine rechte Hand. Dort ruhten beide für eintausenddreihundertvierzig Jahre.
3
Im Jahre 1894 öffnete ein deutscher Forscher – zumindest bildete er sich ein, das zu sein – die Gruft des Gesegneten im Namen der Wissenschaft.
Die Einheimischen überraschten ihn bei seiner Tat und vertrieben ihn.
Er entkam mit nur einem einzigen Beutestück, mit einem Behälter aus Onyx, in dem sich eine seltsame Kupferpfeife befand. Sie schien aus Kupfer zu bestehen, obwohl das Metall nicht korrodiert
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