Interwelt
ERSTER TEIL
GLÜCKSSTADT
1.
HILFE! ICH FINDE MICH NICHT MEHR ZURECHT! ICH MUSS MICH ORIENTIEREN HIER IST NICHTS! ICH SCHALTE ALLE MEINE SINNE AB. NUN BIN AUCH ICH NICHTS. ICH WARTE.
Fast eine Stunde fuhr ich schon herum, als die Scheinwerfer des Wagens auf das Schild fielen: ERHOLUNGSHEIM COZY. Ich bog nach links ab. Vom Kiesweg kam ich auf einen ungepflasterten Platz, der bei diesem Wetter einem Tümpel glich. Ein Blitz zeigte mir ein dreistöckiges Haus aus Holz und Schindeln, alt und verwittert, und so einladend wie eine Leichenhalle. Regen und Wind peitschten mich, als ich ausstieg und zum Eingang watete. Drei Stufen brachten mich zur Tür. Ich klopfte. Nichts tat sich. Irgendwo mußte wohl eine Glocke sein, nur fand ich sie nicht. Ich hämmerte gegen das dicke Holz.
Endlich hörte ich was dahinter: ein schwerer Riegel wurde zurückgeschoben. Riegel? In einem Erholungsheim?
Eine Schwester, etwa Mitte dreißig, öffnete und starrte mich erschrocken an. Sie forderte mich nicht auf einzutreten, also zwängte ich mich an ihr vorbei.
»Ich möchte zu Joe Rankin«, erklärte ich ihr. »Ich bin Tom Dunjer, sein Schwager. Es handelt sich um eine unaufschiebbare Familienangelegenheit.«
»Warten Sie hier«, forderte die Schwester mich unfreundlich auf.
Ich hatte kaum Zeit, mich im düsteren Korridor umzusehen, da kam sie mit einem großen dicken Mann zurück, der mich an einen Seehund erinnerte. Bei jedem Watschelschritt schwabbelte sein Dreifachkinn, und noch ehe er mich erreicht hatte, streckte er mir die fleischige Pratze entgegen.
»Ich bin Dr. Spelville, Mr. Dunjer. Welch unerwarteter Besuch in einer solchen Gewitternacht. Ich fürchte nur, Sie haben den weiten Weg umsonst gemacht. Ihr Schwager ist nicht mehr hier.«
»Wo ist er denn?«
»Mr. Rankin hat heute nachmittag völlig überraschend seine Koffer gepackt. Ich glaube, ein Wagen holte ihn ab. Er ist ein kranker Mann, Mr. Dunjer. Übernervös, zerrüttete Nerven …« Seine Stimme wurde vertraulich. »Möglicherweise nicht ganz zurechnungsfähig. Aber was sollte ich machen? Er war Privatpatient und konnte tun und lassen, was er wollte. Möchten Sie sein Zimmer sehen?«
Ich zuckte die Schultern.
Spelville schleppte sich vor mir her zu seinem Schreibtisch und drückte auf einen Knopf. Eine Tür öffnete sich lautlos, und ein gedrungener Wärter trat ein.
»Waldorf«, befahl Spelville ihm, »zeigen Sie diesem Herrn das Zimmer, das Mr. Rankin hatte.« Ich folgte dem Gedrungenen, dem die langen Affenarme von den nach vorn gebeugten Schultern baumelten, durch verlassene, weißgetünchte Korridore um mehrere Biegungen zu einem Fahrstuhl, der uns zum ersten Stock brachte. Die ganze Zeit hatte Waldorf nicht ein Wort gesagt. War er stumm?
Rankins Zimmer war so leer wie der Geldbeutel eines Penners. Wir kehrten zu Spelvilles Sprechzimmer zurück. »Zufrieden, Mr. Dunjer?« erkundigte sich der Seehund. Ich nickte und verabschiedete mich. Die Schwester öffnete mir die Tür in den Wolkenbruch, und ich watete zurück zum Wagen. Ich fuhr ein kurzes Stück auf dem Kiesweg, ehe ich das Auto an der Seite abstellte, Taschenlampe und Pistole aus dem Handschuhfach nahm und den Mantelkragen hochklappte. Durch den Regen rannte ich zurück zum Erholungsheim. Wenn Rankin noch dort war, würde ich ihn herausholen. In zwanzig Jahren als Schnüffler lernte man allerhand. Nur in den drei Jahren als Chef der Sicherheit-Plus Abteilung hatte ich möglicherweise einiges verlernt. Jedenfalls hoffte ich, daß ich es schaffen würde.
ICH HABE KEINEN NAMEN. BIS JETZT BIN ICH BLOSS EINE STIMME. ES GIBT WELTEN UND WELTEN. NICHTS IST, WIE ES ZU SEIN SCHEINT. SEI WACHSAM! ACHTE AUF KAUM MERKLICHE VERLAGERUNGEN, GRADATIONEN. SELBST SPIEGELBILDER MÜSSEN SCHLIESSLICH ABWEICHEN. DAS IST NATÜRLICH NICHT MEHR ALS EINE ANDEUTUNG, EINE MÜSSIGE ABSCHWEIFUNG, DIE DIE ZEIT VERTREIBEN HILFT. NUR GIBT ES HIER, WO ICH BIN, KEINE ZEIT – LEDIGLICH LEERE. ABER AUCH SIE IST ZEITBEDINGT. ICH SPÜRE BEREITS DIE ERSTEN ERSCHÜTTERUNGEN DER VERÄNDERUNG. BALD WERDE ICH ZWEIFELLOS IRGENDWO ERSCHEINEN. HAB GEDULD! ES LOHNT SICH, AUF MICH ZU WARTEN.
2.
Nicht ein Lichtschimmer drang durch die geschlossenen Läden. Es war ein häßliches Haus und roch nach Moder. Ich schlich zur Rückseite und rutschte mehrmals in dem Morast aus. Mit der Taschenlampe leuchtete ich die Hauswand hoch. Die Fenster im Parterre waren zugemauert, die im ersten Stock mit Läden verschlossen, doch um zu
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