Intimitaet und Verlangen
hatte ich nicht erwartet, durch Störungen des sexuellen Verlangens so viel über Intimität und Liebe zu lernen. Ich werde in diesem Buch versuchen, Ihnen all das, was ich auf diese Weise gelernt habe, zu vermitteln.
Menschen suchen in der Regel nach einer Sichtweise, die ihnen zusagt. Falls Sie in einem Buch nach der Bestätigung Ihrer Ansicht suchen, dass Ihr sexuelles Verlangen letztendlich von Hormonen und biologischen Faktoren gesteuert wird, ist das vor Ihnen liegende Buch für Sie nicht das richtige. Und falls Sie aufgefordert werden möchten: »Machâ es einfach!«, sollten Sie Ihre Zeit nicht damit vergeuden, hier weiterzulesen. Und wenn Sie davon überzeugt sind, dass das Verlangen ohnehin irgendwann abstirbt und dann nie mehr zurückkehrt, lesen Sie besser etwas anderes.
Aber wenn Sie Ihr Verlangen stärker spüren oder es vertiefen und ihm mehr Bedeutung geben wollen, dann halten Sie mit diesem Buch einen wahren Goldschatz in Händen. Es wird dann nicht nur Ihr Denken und Fühlen über sich selbst , sondern Ihr gesamtes Denken und Fühlen verändern â nicht mehr und nicht weniger. Vielleicht verändert es sogar die Funktionsweise Ihres Gehirns. Sicher ist es schwer vorstellbar, wie all dies durch die Auseinandersetzung mit einem Problem des sexuellen Verlangens bewirkt werden soll, und erst recht, wie dies durch die Beschäftigung mit einer Frage gelingen könnte, die Sie bisher nicht haben beantworten können. Der Grund ist einfach: Sie kennen den hier vorgestellten revolutionären Ansatz noch nicht. Wenn Sie lernen möchten, Verlangen, Liebe, Intimität und Sex in längerfristigen emotionalen Beziehungen auf völlig neuartige Weise zu verstehen, dann rate ich Ihnen weiterzulesen.
Ein neuer Ansatz, der neue Chancen bietet
Die Anthropologin Stephanie Coontz schreibt, dass fast in der gesamten bekannten Geschichte der Menschheit EheschlieÃungen aufgrund finanzieller, politischer und familiärer Pläne des Familienclans von den Eltern des Paars arrangiert wurden. Die Männer und Frauen, die einander heirateten, kannten sich kaum oder gar nicht und hatten nur geringen oder keinen Einfluss auf die Auswahl ihrer Partner. Erst seit etwa 200 Jahren stehen bei Ehen nicht mehr politische und ökonomische Interessen im Vordergrund, und seit dieser Zeit wählen Menschen ihre Ehepartner selbst. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte basieren Ehen heute auf Liebe, Verlangen, Intimität und Sex . Wir mögen diese Entwicklung für eine Selbstverständlichkeit halten, doch durch sie sind Probleme mit dem sexuellen Verlangen zu einem häufigen Scheidungsgrund geworden. Natürlich kann die Lösung nicht darin bestehen, zusammenzubleiben und den Sex ganz aufzugeben oder sich damit abzufinden, dass die Beziehung unbefriedigend bleibt. Sie besteht vielmehr darin, gemeinsam auf die Verwandlung des gestörten Verlangens in neue Leidenschaft hinzuarbeiten.
Wenn wir über das sexuelle Verlangen nachdenken, stoÃen wir auf unterschiedliche Sichtweisen: Zunächst ist es eine Programmierung zur Fortpflanzung, die durch Gene und Hormone gesteuert wird. Dann gibt es die von Freud geprägte Sicht des Verlangens als Libido , der zufolge sich die sexuellen Impulse ständig unerwartet melden und uns in Schwierigkeiten bringen. AuÃerdem gibt es die romantische Sicht, die das Verlangen als einen natürlichen Ausdruck wahrer Liebe versteht. Ein weiteres Modell stellt die sexuelle Erregung und die Vorstellung, man müsse »dem Ruf der Natur« folgen, in den Mittelpunkt. Und schlieÃlich gibt es noch die Auffassung, die sexuelles Verlangen mit physischem Hunger und Durst vergleicht. Bevor ich meinen eigenen neuen Ansatz entwickelte, war es in der Sexualtherapie üblich, schwaches sexuelles Verlangen als eine Art »sexueller Anorexie« zu verstehen.
Alle aufgeführten Sichtweisen gehen von der Annahme aus, dass Sie â sofern Sie gesund sind und in einer gesunden Beziehung leben â sexuelles Verlangen haben . Und falls Sie (im Sinne dieser Sichtweise) Probleme bezüglich Ihres sexuellen Verlangens haben, stimmt mit Ihnen, Ihrem Partner oder Ihrer Beziehung etwas nicht. Natürlich wollen Sie kein schwaches sexuelles Verlangen haben, denn dann befänden Sie sich nicht im Bereich des Normalen.
In diesem Buch wird eine andere Auffassung vertreten. Es erläutert, warum bei normalen, gesunden
Weitere Kostenlose Bücher