Aurora Komplott (Thriller) (German Edition)
Prolog
Freitag, 16.09.1994, 07.45 Uhr
Freilich, es gibt schönere Landschaften auf
dieser Erdkugel. Aber kein Landstrich auf der Welt besitzt zu dieser Jahreszeit
einen größeren Liebreiz. Dichte als auch lichte Wälder säumen in vollendeter
Harmonie die meisten Zufahrtsstraßen, die von Süden in die Stadt führen. Die
sanften Hügel verleihen der Gegend einen zauberhaften, anmutigen Charakter.
Quirlige Bachläufe plätschern munter zu Tal, um dann beschaulich durch die
weiten Auen dahinzufließen.
Die kühle Morgenluft war längst gesättigt vom
nahen Herbst. In wenigen Wochen würde er die farbenreiche Laubfärbung der
Ebereschen, Birken, Eichen, wie auch der Ahornbäume noch intensiver leuchten
lassen. Und der erste Frost würde die Bäume bunt färben. Dann war Moskau von
einem wogenden und funkelnden Meer bunten Laubes umgeben. Die augenblickliche
Farbgebung ließ die kommende Pracht bereits erahnen.
Gleich hatte sein Lada die letzte Höhe vor
Konkovo bezwungen, dann lag die Hauptstadt des ehemaligen Imperiums vor ihm.
Folgte er dieser Einfallsstraße, würde er rechts den Gorki-Park passieren und
dann die Innenstadt erreichen.
Obgleich heute die Entscheidung anstand, wusste
er noch nicht, wie er votieren sollte. Er hatte sich noch nicht entschieden,
konnte sich partout auch jetzt nicht entscheiden. Sein Kopf war benebelt von zu
viel Wodka und zu wenig Schlaf. Er öffnete die Seitenscheibe und sog die
frische Morgenluft begierig in sich hinein. Viel half es nicht, aber sein
benebeltes Hirn nahm den frischen Luftschwall des jungen Tages dankbar auf. Seine
Zunge klebte aber weiterhin am Gaumen. Er litt Durst, unstillbarer Nachdurst
beherrschte ihn, als hätte er alle russischen Wodkabestände leergesoffen. Aber
es war nur eine Flasche.
Er trank oft und meistens zu viel. Vielleicht
hätte er gestern Abend auf die genießerischen Stunden mit dieser Flasche
verzichten sollen. Nicht, dass er infolge der Nachwirkungen des edlen Stoffes
nun mit einem schweren Kater hinter dem Lenkrad saß, nein, keineswegs, dafür
reichte eine Flasche bei weitem nicht aus. Über alle Maßen reichte eine Flasche
dieses süffigen Destillats, um seine russische Seele in eine bodenlose
Melancholie zu stürzen. Diese alkoholgeschwängerte Schwermut war eben kein
guter Ratgeber. Aber in Russland musste sich etwas ändern, er musste sich
entscheiden.
Selbst Gorbatschow, die Galionsfigur von
Perestroika und Glasnost hat erst die Sowjetunion dann Russland gelähmt und
paralysiert. Dieser Umgestalter war erst zum Konkursverwalter und dann zum
Totengräber des Landes geworden. Das Eine hatte das Andere bedingt. Eines war
aus dem Anderen erwachsen. Auch Jelzin war fortwährend nur mit der Pflege
seines Alkoholpegels beschäftigt und nicht fähig, dem Rad des russischen
Schicksals in die Speichen zu greifen, damit sich Entscheidendes änderte. Und
die neuen Apparatschiks stopften sich auch nur die eigenen Taschen voll. Es
musste etwas geschehen, sollte Russland nicht auf dem Kehrichthaufen der
Geschichte landen, wie andere Hochkulturen der Vergangenheit.
Langsam öffnete sich der Blick auf Moskau und
die Silhouette der Hauptstadt erhob sich aus dem Bodennebel. Nun schien die
Chaussee mit Hast in die Stadt zu stürzen. Noch ungefähr fünfundzwanzig
Kilometer und die Peripherie der Außenbezirke war erreicht. Bis zur Akademie
der Kunstwissenschaften bräuchte er mit seinem Lada dann noch eine
Viertelstunde. Das Hotel „Petersburger Eremitage“ war eine Topadresse. Vom
Parkplatz der Akademie der Künste höchstens noch acht bis zehn Minuten zu Fuß
in Richtung Tolstoi-Museum, dann war er da. Seine Stimme im erweiterten
Exekutivkomitee könnte heute bedeutsam werden. Eine Entscheidung hatte er noch
immer nicht getroffen. Führe er bei der nächsten Abfahrt nicht nach Moskau
rein, käme er nicht rechtzeitig zur Sitzung und die Beschlussfähigkeit des
Kollegiums war dann nicht gegeben. Beschlüsse zur Rettung des Vaterlandes
könnten dann nicht gefasst werden, die Verelendung breiter Volksschichten würde
umso rascher fortschreiten.
Wohl war ihm nicht, sein Votum abzugeben. Es war
schwer, zwischen Reform und Reaktion zu wählen. Wie er sich auch entschied, es
konnte nur falsch sein. Falsch im Sinne des neuen Denkens, entschied er sich
als Reaktionär. Und wählte er die Reform, würde das Land von weiteren noch
schwereren sozialen Erschütterungen erbeben und viele Bürger in ihrer Existenz
bedrohen. Er sah keine Chance, diesem
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