Inversionen
nicht geradezustehen. Ich bin rein zufällig auf die ursprüngliche Version gestoßen, und obwohl ich glaube, daß sie einen interessanten Kontrapunkt zu der Geschichte bildet, von der ich selbst betroffen war, sehe ich darin eher einen künstlerischen Schnörkel und nicht so sehr eine bewertende Darstellung, die auf eingehendem Recherchieren und Nachdenken beruht. Dennoch glaube ich, daß die beiden Erzählungen zusammengehören und gemeinsam mehr Gewicht haben als jede einzeln. Es war, und daran kann meiner Meinung nach kein Zweifel bestehen, eine tiefgreifende Zeit. Geografisch war das Kreuz gespalten, aber das traf schließlich damals für vieles zu. Spaltung war die einzige bestehende Ordnung.
Ich habe versucht, die Dinge, über die ich hier geschrieben habe, nicht zu beurteilen, muß allerdings gestehen, daß ich hoffe, der Leser – vielleicht als eine Art Teilvorsehung – wird genau das tun und nicht schlecht von uns denken. Ich bekenne freimütig, daß ein wesentlicher Teil meiner Beweggründe (vor allem durch Verbesserung und Ergänzung meiner früheren eigenen Chronik als auch durch die Verfeinerung der Sprache und Grammatik meines Miterzählers) der Versuch ist sicherzustellen, daß der Leser nicht schlecht von mir denkt, und natürlich ist das ein selbstsüchtiges Bestreben. Dennoch hoffe ich, daß eine solche Selbstsucht zum Guten führen kann, aus dem einfachen Grund, weil es sonst diese Chronik gar nicht geben würde.
Wiederum muß der Leser entscheiden, ob das die glücklichere Wendung gewesen wäre, oder nicht.
Genug. Ein junger und ziemlich ernster Mann wünscht das Wort an uns zu richten:
1. Kapitel
Die Ärztin
Meister, es war am Abend des dritten Tages der südlichen Pflanzzeit, als der Gehilfe des Verhörleiters zur Ärztin kam und sie in eine verborgene Kammer holte, wo der Foltermeister wartete.
Ich saß im Wohnzimmer der Räume der Ärztin und war mit einem Stößel und einem Mörser beschäftigt, um einige Zutaten für eines der Medikamente der Ärztin zu zerreiben. Auf diese Arbeit konzentriert, brauchte ich einen Augenblick, um meine Sinne wieder voll und ganz zu sammeln, als ich das laute und aggressive Klopfen an der Tür hörte, und auf dem Weg zur Tür warf ich eine kleine Weihrauchschale um. Das war der Grund sowohl für die Verzögerung beim Öffnen der Tür als auch für irgendwelche Flüche, die Unoure, der Gehilfe des Verhörleiters, gehört haben mag. Diese Schimpfworte waren nicht an ihn gerichtet, ebensowenig wie ich verschlafen oder auch nur im entferntesten erschöpft war, wie meiner Vermutung nach mein guter Meister glauben mag, gleichgültig was dieser Unoure – ein wankelmütiger und unzuverlässiger Kerl, nach allem, was man über ihn hört – behaupten mag.
Die Ärztin war in ihrem Arbeitszimmer, wie meist um diese Zeit am Abend. Ich betrat die Werkstatt der Ärztin, wo ihre beiden großen Wandschränke stehen, in denen sie ihre Pulver, Pasten, Salben, Trünke und verschiedene Instrumente aufbewahrt, die zu ihrem Beruf gehören, wie auch zwei Tische mit einer Vielfalt von Brennern, Stövchen, Glaskolben und Fläschchen. Gelegentlich behandelt sie hier auch Patienten, dann wird der Raum zu ihrem Operationssaal. Während der unangenehm riechende Unoure im Wohnzimmer wartete, sich die Nase am schmierigen Ärmel abwischte und sich mit dem Blick eines Menschen umsah, der seine Auswahl an stehlenswerten Gegenständen traf, ging ich durch die Werkstatt und klopfte an die Tür zu ihrem Arbeitszimmer, das ihr auch als Schlafzimmer diente.
»Oelph?« fragte die Ärztin.
»Ja, Herrin.«
»Tritt ein!«
Ich hörte das Klatschen, als ein schweres Buch zugeschlagen wurde, und lächelte vor mich hin.
Das Arbeitszimmer der Ärztin war dunkel und roch nach der süßen Istra-Blüte, deren Blätter sie für gewöhnlich in hochhängenden Weihrauchwannen verbrannte. Ich ertastete mir den Weg durch die Düsternis. Natürlich kenne ich die Einrichtung des Arbeitszimmers der Ärztin wie meine Westentasche – besser als sie vielleicht annimmt, dank der weisen Voraussicht und umsichtigen Schlauheit meines Meisters –, doch die Ärztin war berüchtigt dafür, Stühle, Hocker und Regalleitern im Weg herumstehen zu lassen, und deshalb mußte ich meinen Weg durch den Raum ertasten, bis zu der Stelle, wo eine kleine Kerze auf ihre Anwesenheit hindeutete; sie saß vor einem Fenster mit schweren Vorhängen an ihrem Schreibtisch. Sie saß aufrecht auf ihrem Stuhl, drückte den
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