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Inversionen

Inversionen

Titel: Inversionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Banks
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Rücken durch und rieb sich die Augen. Der handdicke, unterarmbreite und -hohe Klotz, der ihr Tagebuch war, lag vor ihr auf dem Schreibtisch. Das große Buch war zugeschlagen und verschlossen, doch selbst in dieser höhlenartigen Dunkelheit bemerkte ich, daß die kleine Kette an der Verschlußspange hin und her schaukelte. Ein Federhalter stand im Tintenfaß, dessen Deckel offen war. Die Ärztin gähnte und zupfte die feine Kette, die den Schlüssel für das Tagebuch enthielt, an ihrem Hals zurecht.
    Mein Meister kennt aus meinen vielen vorherigen Berichten meine Annahme, daß die Ärztin möglicherweise eine Niederschrift ihrer Erfahrungen hier in Haspide für das Volk in ihrer Heimat in Drezen verfaßt.
    Der Ärztin liegt offenbar viel daran, ihre Aufzeichnungen geheimzuhalten. Manchmal jedoch vergißt sie, daß ich im Zimmer bin, im allgemeinen dann, wenn sie mich mit der Aufgabe betraut hat, irgendeinen Hinweis in einem der Bücher ihrer mit den ausgefallensten Bänden bestückten Bibliothek herauszusuchen und ich mich dieser Arbeit eine Zeitlang schweigend gewidmet habe. Aufgrund des wenigen von ihrem Geschriebenen, auf das ich bei solchen Gelegenheiten einen Blick habe erhaschen können, kam ich zu dem Schluß, daß sie sich beim Schreiben in ihr Tagebuch nicht immer des Haspidianischen oder Imperialischen bedient – obwohl es Kapitel in beiden Sprachen gibt –, sondern manchmal ein Alphabet benutzt, das ich noch nie zuvor gesehen habe.
    Soweit ich weiß, hat mein Meister erwogen, mit anderen aus Drezen stammenden Leuten Verbindung aufzunehmen, um herauszufinden, ob die Ärztin in solchen Fällen auf drezenisch schreibt oder nicht, und zu diesem Zweck versuche ich, meinem Gedächtnis soviel wie möglich von den wichtigen Tagebucheintragungen der Ärztin einzuprägen, wann immer ich kann. Bei dieser Gelegenheit gelang es mir jedoch nicht, einen Blick auf die Seiten zu werfen, an denen sie zweifellos gearbeitet hatte.
    Es ist immer noch mein Wunsch, meinem Meister in dieser Hinsicht besser zu dienen, und ich möchte wieder einmal mit aller Hochachtung darauf hinweisen, daß eine vorübergehende Entwendung ihres Tagebuchs einem geschickten Schlosser erlauben würde, das Schloß zu öffnen, ohne es zu beschädigen, damit eine genaue Abschrift ihre Eintragungen angefertigt und die Angelegenheit auf diese Weise erledigt werden könnte. Das könnte leicht geschehen, während sich die Ärztin in irgendeinem anderen Teil des Palastes aufhält, oder vielleicht noch besser an irgendeinem anderen Ort in der Stadt, oder auch wenn sie eines ihrer häufigen Bäder nimmt, die sie lange auszudehnen pflegt (es war während eines ihrer Bäder, daß ich eines der Skalpelle der Ärztin – das inzwischen übergeben wurde – für meinen Meister aus ihrer Medizintasche besorgte). Ich möchte hinzufügen, daß ich darauf bedacht war, dieses sofort nach einem Besuch im Armenhospital zu tun, damit jemand dort verdächtigt würde. Doch ich verneige mich diesbezüglich natürlich vor dem überlegenen Urteil meines Meisters.
    Die Ärztin betrachtete mich stirnrunzelnd. »Du zitterst ja«, sagte sie. Und das stimmte tatsächlich, denn das plötzliche Auftauchen des Gehilfen des Foltermeisters hatte mich aufgewühlt, was ich keineswegs leugnen möchte. Die Ärztin sah an mir vorbei zur Tür zum Operationssaal, die ich offen gelassen hatte, damit Unoure unsere Stimmen hören konnte und sich dadurch vielleicht von irgendeiner Untat, die er vielleicht im Schilde führte, abhalten lassen würde. »Wer ist das?« fragte sie.
    »Wer ist wer?« fragte ich und beobachtete sie, wie sie den Deckel des Tintenfasses schloß.
    »Ich habe jemanden husten hören.«
    »Oh, das ist Unoure, der Gehilfe des Verhörleiters. Er ist gekommen, um Euch zu holen.«
    »Wohin?«
    »Zur Geheimen Kammer. Meister Nolieti hat nach Euch schicken lassen.«
    Sie sah mich einen Augenblick lang schweigend an. »Der Foltermeister«, sagte sie ausdruckslos und nickte. »Stecke ich in Schwierigkeiten, Oelph?« fragte sie und legte einen Arm über den dicken Lederdeckel ihres Tagebuchs, als ob sie danach trachtete, Schutz zu bieten oder zu suchen.
    »O nein«, antwortete ich. »Ihr sollt Eure Tasche mitbringen. Und Medikamente.« Ich warf einen Blick zur Tür des Operationssaals, durch die das Licht aus dem Wohnzimmer fiel. Ein Husten ertönte aus dieser Richtung, ein Husten, das sich wie die Art Husten anhörte, die man von sich gibt, wenn man jemanden daran erinnern möchte,

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