Irgendwann Holt Es Dich Ein
mir zu! Ich habe sie gesehen!«, schluchzte Kate seltsam kehlig und abgehackt, als drohe sie an ihren Worten zu ersticken. »Ich war da. Ich hab's gesehen! Ich hab gesehen, wie sie starb!«
Und schließlich begriff er. Es traf ihn wie ein Hieb, und er sackte fröstelnd auf die Bettkante. Beinahe konnte er es vor sich sehen: den Zug, die Leiche, das Blut. Kate, die dastand und alles mit anschaute. Er wollte bei ihr sein, sie in die Arme nehmen, sofort. »Ich komme nach Hause«, sagte er. »Auf der Stelle. Ich bin so schnell bei dir, wie ich kann, okay?«
»Okay«, hauchte sie matt. Er hörte, wie sie wieder schluchzte, und musste schlucken. »Ich weiß nicht, was ich machen soll«, flüsterte sie mit gebrochener Stimme. »Ich weiß überhaupt nicht, was ich machen soll.«
Ihre Verzweiflung erschien ihm viel zu groß, um am Telefon etwas ausrichten zu können. Am liebsten hätte er durch das Kabel gegriffen und Kate festgehalten, sie nie mehr losgelassen. Doch selbst wenn er in diesem Moment bei ihr gewesen wäre, hätte er gar nicht gewusst, ob er dazu noch das Recht besaß. Mit den Regeln, die zwischen einander entfremdeten Ehepartnern galten, kannte er sich nicht aus. Fürs Erste rettete er sich in pragmatische Ratschläge. »Mach dir eine Tasse von dem Kräutertee, den du gern trinkst, und dann ruf deinen Chef an und sag ihm, dass du morgen nicht zur Arbeit kommst. Anschließend gehst du ins Bett. Versuch zu schlafen. Ich fahre sofort los und bin so schnell wie möglich zu Hause.«
Zu Hause, dachte er, als er das Gespräch beendete. Ja, es ist immer noch mein Zuhause.
»Versuch zu schlafen«, hatte er gesagt. Und Kate versuchte es. Ja, sie versuchte es wirklich. Bevor sie ins Bett gegangen war, hatte sie ihrem Chef eine Nachricht aufs Band gesprochen, ihm kurz erklärt, was geschehen war. Dabei staunte sie selbst, wie ruhig ihre Stimme geklungen hatte. Sie hatte sich einen Becher Kamillentee aufgebrüht und ihn getrunken, während sie ein Lavendelschaumbad nahm und Radio Two hörte. Vergeblich hatte sie sich bemüht, dem sinnentleerten Geplauder einer Late-Night-Sendung zu lauschen, und gehofft, dass es die Stimmen und die Schreie in ihrem Kopf übertönen würde. Dann, in den frühen Morgenstunden, war sie unter ihre warme Bettdecke geschlüpft, hatte die Nachttischlampe ausgeschaltet und versucht, den Schlaf herbeizuzwingen.
Und das tat sie immer noch. Sie lag im Bett, schweißnass, auf einem unbequem verrutschten, faltigen Laken. Inzwischen war sie so weit zu glauben, dass sie wohl nie wieder würde schlafen können. Nie. Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, sah sie Blut, als sei es ihr auf die Innenseiten der Lider gespritzt. Und die Blutflecken verliefen ineinander, bildeten Lachen, die ihr gesamtes Denken überfluteten. Sie sah Arme, die nach ihr griffen, sie stießen und schubsten; die verängstigten Augen des Zugführers; das Wort »Edgware« oben an dem Zug. Schreie, Stoßen, Schubsen. Sie hörte das entsetzliche Geräusch, als Hatties Körper gegen den Zug geprallt war, ein lauter, aber dennoch weicher Ton. Als Kate einmal kurz vorm Einschlummern war, hatte sie das Gefühl, abrupt in die Tiefe zu sinken. Ihr war, als falle sie und müsse jeden Moment hart aufschlagen, so hart, dass sie fast meinte, die Blutergüsse spüren zu können, die sie davontragen würde. Ein myoklonisches Zucken. Kate wusste, dass es ein einfach zu erklärendes, rein physisches Phänomen war. Die Muskeln spannten sich an und lockerten sich wieder. Dennoch ließ der Schreck sie unkontrolliert zittern.
Durch jahrelange Erfahrung mit ungewöhnlichen Arbeitszeiten und ständig sich ändernden Schichtplänen hatte Kate gelernt, dass es bei Einschlafschwierigkeiten zwecklos war, es weiter krampfhaft zu versuchen. Deshalb bemühte sie sich stattdessen, richtig wach zu werden, zog sich ihren Morgenmantel an, schaltete die Nachttischleuchte ein und nahm sich den Krimi, der aufgeschlagen auf dem Nachttisch lag. Sie versuchte sich auf die Geschichte zu konzentrieren und sich zu erinnern, was bisher geschehen war. Aber die Worte blieben vollkommen belanglos und nichtssagend.
Kate merkte, dass sie schon wieder zitterte und sich wie eine Besessene vor- und zurückwiegte. Ihre Fingernägel bohrten sich in die Handflächen, weil sie die Fäuste zu fest ballte. Dann bemerkte sie, wie sie ihre Haut rieb, auf den Armen und im Gesicht, bis sie sich wund anfühlte. Blut, das war es, was sie wegwischen wollte. Dann fiel ihr ein, was sie
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