Irgendwann Holt Es Dich Ein
Deutlich konnte sie Susans Gesicht sehen: entschlossen, stark, verbissen. Ihr eigenes sah wahrscheinlich ähnlich aus.
Kate hatte keine Ahnung, warum sie nicht einfach losließ - und vor allem, wie sie es schaffte, nicht loszulassen. Aber sie schaffte es. Ihre Hände hielten Susans Handgelenke fest umklammert, und schließlich, als sie bereits glaubte, sie könnte das Gewicht der anderen keine Sekunde länger halten, musste Susan mit den Füßen ein Loch im Mauerwerk, einen Vorsprung oder ein Rohr gefunden haben, denn auf einmal war das Zerren in Kates Schultern weg. Und so entdeckte Neil sie beide, als er auf den Schulhof geschlendert kam: Kate, die Susan das Leben rettete - grundlos, instinktiv.
EINUNDDREISSIG
Die Wohnung war geradezu beklemmend sauber. Die viel zu große dreiteilige Sitzgarnitur im kleinen Wohnzimmer war mit durchsichtigen Plastikschonbezügen bespannt. Unbehaglich hockte Kate auf der Sofakante und achtete darauf, ihren Becher mit starkem Tee ordentlich auf den Untersetzer auf dem Couchtisch zu stellen. Hier fühlte sie sich an ihr früheres Zuhause erinnert: alles äußerst ordentlich und kein bisschen gemütlich.
Heathers Mutter war eine sehr gepflegte Frau mit kurzem getöntem Haar, großen goldenen Ohrringen, einem Siegelring am Finger und mehreren Halsketten. Kates Mutter hätte sie als »gewöhnlich« beschrieben, ohne zu begreifen (oder nur allzu gut wissend), wie ähnlich sie ihr war.
Mrs. Clark war misstrauisch geworden, als Kate vor ihrer Tür stand. »Eine Freundin von Heather? Sie wissen aber schon, dass Heather seit zwanzig Jahren tot ist, oder?«
Trotzdem hatte sie Kate hereingebeten, ihr einen Tee gemacht und wartete nun im Sessel gegenüber auf das, was Kate ihr zu sagen hatte.
Kate war nicht sicher, warum sie hergekommen war. Vielleicht trieb sie dasselbe Gefühl von Schuld und Verantwortung an, das sie vor Wochen dazu gebracht hatte, Hatties Mutter zu besuchen. Sie wollte sich von einer Last befreien, und sie fand, dass Mrs. Clark erfahren musste, was genau geschehen war.
»Ich war in Cambridge, als Heather starb. Das alles tut mir entsetzlich leid.«
Für eine Sekunde verkrampfte Mrs. Clark sich. Dann zuckte sie mit den Schultern und nippte an ihrem Tee. Kate bemerkte die Fotos auf dem Kaminsims: sommersprossige Enkelkinder, ein paar Hochzeitsbilder und, eingeklemmt in den Rahmen eines anderen Fotos, ein kleineres von Heather. Sie musste ungefähr dreizehn Jahre alt gewesen sein und trug ihre Schuluniform. »Ich habe ihr gleich gesagt, dass Cambridge nichts für Mädchen wie sie ist«, sagte Mrs. Clark unvermittelt. »Ich habe ihr gesagt, sie soll da nicht hinfahren.«
Mrs. Clarks Bemerkung klang so, als habe Heathers Wunsch, in Cambridge zu studieren, ihr Traum von einer solchen Universität, erst zu ihrem Tod geführt. In gewisser Weise stimmt es vielleicht, dachte Kate. »Sie war so aufgeregt, dort zu sein. Es ist bloß, dass sie ...«
Was wollte sie sagen? Und vor allem: Was wollte Heathers Mutter hören? Kate hatte sich vorgestellt, ihr die ganze Geschichte zu erzählen. Und hinterher würde ihr Mrs. Clark vergeben, ihr Absolution erteilen. Aber nun, hier in diesem Wohnzimmer, in dieser Wohnung, erinnerte sie alles so sehr an ihr eigenes Zuhause, dass sie es einfach nicht konnte. Keine Mutter wollte hören, dass ihr Kind gemobbt worden war. Also hielt Kate sich stattdessen an die Fakten. »Heather wurde zum Trinken gedrängt. Sie hatte sich einigen boshaften Mädchen angeschlossen, zu denen ich auch gehört habe. Und wir setzten sie unter Druck. Sie - wir - haben sie überredet, auf der Mauer am Fluss zu balancieren. So ist sie gestorben.«
Und Mrs. Clark tat nichts weiter als zu nicken, als hätte Kate soeben bestätigt, was sie längst wusste. »Tja, wie ich schon gesagt habe. Cambridge ist nichts für Mädchen wie sie.«
Neil wartete draußen im Wagen. Kate öffnete die Beifahrertür, stieg ein, knallte die Tür wieder zu und schwieg. Neil stellte das Radio ab. »Und?«
»Sie hat sich überhaupt nicht aufgeregt. Als wäre es ihr vollkommen egal.«
»Das ist alles lange her. Sicher hat sie vor Jahren schon mit der Sache abgeschlossen. Und dir ist doch klar, dass du eigentlich nur hergefahren bist, damit du dich besser fühlst.«
Kate stieß einen Laut irgendwo zwischen Lachen und spöttischem Grunzen aus. »Ja, wahrscheinlich.«
»Und? Fühlst du dich jetzt besser?«
Neil blickte seine Frau an, die ihn allerdings nicht anschaute. Sie
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