Irgendwann ist Schluss
wirklich und ehrlich vor, ihr die Fernbedienung zu bringen, sah meine Frau dort sitzen auf dem Sofa, in ihren Schlappen, in diesen grüngelben Schlappen, in ihrem Bademantel, diesem rüschigen rosa Bademantel, sie war frisch geduscht und roch nach Vanille und Kokos, ein Handtuch im Haar, sie saß da, wie sie oft dasaß, an vielen Abenden, die Fernbedienung lag bei mir auf dem Esstisch, ich ging zu meiner Frau, und sie hatte den Kopf zurückgelehnt, massierte sich den Nacken, mit geschlossenen Augen, und erst als ich ihr die Fernbedienung reichen wollte, merkte ich, dass ich sie auf dem Tisch hatte liegen lassen, und genau in diesem Augenblick schlug ich zu, es gab keinen Grund, aber ich tat es, ich musste es tun, was die prompte Trennung zur Folge hatte, da gibt es nicht mehr viel zu diskutieren. Sehen Sie, Herr Mollenhaupt, diese Stimme ist gekommen und hat mir mein Leben unter den Füßen weggerissen, nicht ich war es, der nun handelte, sondern die Stimme, die über mich kam und die mich langsam, aber sicher alles zertrümmern ließ, was ich mir über Jahrzehnte hinweg aufgebaut hatte. Meine Firma, ich habe eine diebische Freude daran, meine Firma zu vernichten! Bekomme ich Anrufe von Kunden, sage ich ihnen, wir haben keine Kapazitäten mehr, obwohl das gelogen ist, wir hätten noch genügend Kapazitäten, wir haben ja immer mehr Kapazitäten, je hartnäckiger ich die Leute verscheuche, aber ich frage Sie, Herr Mollenhaupt, was ist der Sinn, wofür tun wir das alles, was gibt uns das? Das stagnierende Glück, das ist der Anfang vom Ende, es ist die Schwester des Todes. Ich werde Insolvenz anmelden, das wird ratzfatz gehen, ich habe das Haus meiner Frau und meinem Sohn überschrieben, mein Sohn hat seinen Besuch angekündigt, aber er wird mich hier nicht mehr finden, er will nach dem Rechten sehen, will wissen, was mit mir los ist. Ja, was ist mit mir los? Ich bin wieder unten, Herr Mollenhaupt, am Anfang, ein Weg liegt vor mir, frei, nichts vorgegeben, ohne Bindung, ohne irgendwas, ist es das, was die Stimme mir hat schenken wollen? Das jedenfalls rede ich mir ein. Ich hoffe so sehr, dass die Stimme jetzt schweigt. Dann wieder denke ich, noch ist mir nicht alles genommen! Was, wenn die Stimme mir auch noch das nehmen will, was mir geblieben ist: mein Leben? Ich rede so viel, weil ich fürchte, die Stimme wird noch mehr verlangen, weil ich fürchte, wenn ich schweige, wird sie über mich kommen und Steig ins Auto sagen, und ich werde aufstehen und ins Auto steigen, und ich werde zur Brücke fahren, zur Autobahnbrücke, sechzig Meter hoch, ich werde aus dem Auto steigen und um das Auto herumlaufen, und die Stimme wird sagen: Spring . Und die Sekunden, in denen ich fliege, Herr Mollenhaupt, davor habe ich am meisten Angst, in diesen Sekunden werde ich zu mir kommen. Davor graut mir, vor den Sekunden, in denen mir klar wird, dass ich alles weggeworfen habe, was ein Mensch wegwerfen kann, davor graut mir, dass ich dort fliege und mir im Augenblick des Fliegens nichts so sehr wünsche, als anzuhalten, umzukehren, davor habe ich Angst. Nein. Das kann. Das darf. Das wird nicht geschehen, nein. Die Stimme hat doch erreicht, was sie erreichen wollte, ich bin wieder unten, am Anfang, das muss es sein, was die Stimme mir hat schenken wollen, nicht mehr, nicht weniger. Irgendwann, Herr Mollenhaupt, irgendwann muss doch Schluss sein. Und ich frage mich, weshalb ich hier sitze, Herr Mollenhaupt, es geht mir nicht gut, ich bin am Ende, aber wenn wir am Ende sind, sind wir zugleich am Anfang. Wir bleiben unser Leben lang Kinder, die den Turm aus Bauklötzen niemals stehen lassen können. Ich bin froh, dass ich es so offen aussprechen kann, Sie sind ein guter Therapeut, Herr Mollenhaupt, ich danke Ihnen für Ihre Geduld, Ihre Therapie, das funktioniert ganz wunderbar, Ihre, wie soll ich das nennen, Ihre monologzentrierte Kliententherapie oder klientenzentrierte Monologtherapie, das hat mich geheilt, das hat mir die Gewissheit gegeben, dass alles, was ich tue, einen Sinn ergibt, ich leide wie ein Hund, Herr Mollenhaupt, aber nur, weil ich leide, habe ich das Gefühl, am Leben zu sein, ins Leid bin ich geheilt, werde nun gehen, Herr Mollenhaupt, ich denke nicht, dass ich noch mal wiederkomme, die Stimme wird zu sprechen aufhören, sie muss zu sprechen aufhören, alles andere ist nicht denkbar, sie hat erreicht, was sie wollte, ihr Werk ist vollbracht, ich kann neu beginnen, mein Leben aufzubauen, um es dann wieder umzuwerfen, so
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