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Irgendwann ist Schluss

Irgendwann ist Schluss

Titel: Irgendwann ist Schluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
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Zweiter da, mitten in der Nacht. Ich machte die Augen auf und sah in sein Gesicht, er saß auf meiner Bettkante, legte mir die Pranke auf den Mund und drückte mich mit seinem Gewicht ins Bett, ein Riese, eigenartig rot seine Haut, als hätte er zu lang in der Sonne gelegen, seine Haare blond, gescheitelt, dazu Sommersprossen und wässrige Schweinsaugen, ich nenne ihn Kuttner, er sieht einfach so aus, als hieße er Kuttner. Er blieb eine ganze Weile auf mir hocken. Ich rührte mich nicht. »Wir werden immer da sein!«, sagte er und fügte hinzu: »Wir säbeln dir die Beine ab. Irgendwann, nicht jetzt, aber irgendwann, ganz sicher.« Dann verschwand er.
    Ich rauchte eine Zigarette nach der anderen und marschierte im Flur auf und ab. Wie war er reingekommen? Am nächsten Morgen rief ich den Schlüsseldienst und ließ das Schloss austauschen. Als ich ein leises, schmatzendes Geräusch vernahm, verließ ich das Haus und stieg ins Auto. Ich wusste, was ich zu tun hatte. Mir blieb nichts übrig.
    Sind Sie Erich Cramm?, hatte mich der Mann gefragt.
    Ja, hatte ich geantwortet.
    Der Sohn von Hans Cramm?, hatte er gefragt.
    Und ich hatte Ja gesagt.
    Im Gefängnis erfuhr ich, dass es so etwas wie Besuchszeiten und Besucherlisten gab. Ich hatte Glück und musste nur drei Stunden warten, fühlte mich sicher dort, hohe Mauern, Draht, Wachleute, Gitter. Wenn ich hier leben würde, dachte ich, könnte mir nichts geschehen, weder Kuttner noch Gonzales würden es schaffen, zu mir zu gelangen. Ich überlegte, welches Verbrechen ich begehen könnte, um hier reinzukommen. Dann wurde ich aufgerufen. Der Raum, in den man mich führte, war weiß getüncht, wirkte frisch und hell, als wären die Maler gerade erst mit dem Streichen fertig geworden. Reflexartig legte ich meine Hand an die Wand, spürte aber nur trockene Kälte. Ich war zunächst allein und wusste nicht, ob ich mich setzen sollte. Ich wartete noch eine Weile.
    Mein Vater kam angeschlurft. Jeder Schritt schien ihm wehzutun. Er setzte sich, vorsichtig, langsam. Legte seine Hände als Kissen unter die Oberschenkel. Kein Blick für mich. Auch ich setzte mich, ihm gegenüber. Zwischen uns nur Tisch. Er lutschte. Wohl an frisch aufgeplatztem innerem Wangenfleisch. Sein Gesicht zeigte Rötungen, Krusten, Wunden. Er hatte abgenommen. Aß er nichts? Er starrte unentwegt zur Tischplatte, als hätte sein Blick ein irres Gewicht, das nicht zu stemmen war. Wir saßen da, die Zeit verstrich, irgendwann würde ich sprechen müssen.
    Was für ein Unterschied, dachte ich, was für ein Unterschied zum Vater, den ich aus der Kindheit kannte, die ich verlebt hatte in unserem, ja, Palast, kann man sagen, in unserem Palästchen, wie Marc Antonius, der Bluthundhalter, den Bau nannte, und sonntags gingen wir spazieren, Vater und Mutter Arm in Arm, ich voran, die Hunde natürlich, mindestens drei, Entführung des Kleinen immer im Bereich des Möglichen, Laub, das auf dem Weg lag und in das ich stoßen konnte mit dem Fuß, Mücken, die uns attackierten, am Flussufer, Lachen der Eltern, Donnern in der Ferne, das den Wetterumschwung ankündigte, die riesige Hand, die meine Hand packte, mich nicht mehr losließ, auch wenn ich es wollte.
    Jetzt aber, hier, im Gefängnis, im Besuchsraum, da schwieg mein Vater. Auch ich konnte nichts sagen. Ich war ihm entgegengekommen, war hier, bei ihm, obwohl ich mir geschworen hatte, ihn nie zu besuchen, und jetzt schwieg er? Ich hatte den ersten Schritt getan, warum tat er nicht den nächsten? Es half nichts. Ich sagte endlich »Vater« und erzählte ihm tonlos, was geschehen war, beschrieb die Männer, fragte, ob er die Männer kannte, ob sie auf der Anklagebank gesessen hatten, ob es einen Grund für die Männer gab, sich an ihm zu rächen für das, was er ihnen angetan hatte, ob sie etwa zu den siebenundzwanzig Familien gehörten, die aufgrund der Verfehlungen seiner Firma ihre kleinen, unschuldigen Kinder – mein Vater unterbrach mich mit einer Handbewegung, langsam, bedeutend, als folge er den Anweisungen eines Regisseurs. Eine Theatralik lag in dieser Geste, die ich sofort und ohne jede Einschränkung hasste, und ich ärgerte mich, dass diese Geste mich tatsächlich zum Schweigen brachte. Ich fragte mich, ob er endlich etwas sagen würde, zu mir, seinem einzigen Kind, aber er sah mich nicht an, hatte für Schweigen gesorgt und stand auf, verzog sein Gesicht, und ich dachte noch, jetzt endlich öffnet er die Lippen, um mir zu sagen, was er zu sagen hat, doch nach

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