Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde
der ganz normalen Menschheit abzunehmen. Der Hirnforscher Gerhard Roth verkündet frohgemut, dass wir an all dem gar nicht schuld sind. Er plädiert für die Abschaffung des Strafrechts und die Einweisung von Gesetzesübertretern in Dressuranstalten. Tolle Idee! Wir sind es nicht, es ist unser Gehirn! Und dafür sind wir nachweislich nicht zuständig. Kann ich etwas dafür, wenn die Neurotransmitter in meinem Vorderhirn verrücktspielen und meine Moral durcheinanderbringen? Die Idee von Herrn Roth und seinen Hirnforscherfreunden ist nicht besonders neu. In unseren Tagen begehen wir ihren 290. Geburtstag. Ein gewisser Herr Toland hatte schon im Jahre 1720 das Gehirn für eine Maschine erklärt, die nach ihren eigenen Gesetzen unsere Gedanken produziert. Damals war man noch gebildet genug, den Irrtum zu erkennen. Natürlich kann man ohne ein Klavier keine Klaviersonate spielen und tatsächlich gibt es keinen einzigen Ton ohne eine Tastenbewegung. Doch ohne die genialen Ideen von Leuten wie Ludwig van Beethoven und ohne Klavierspieler wie meine Töchter gäbe es in Wirklichkeit gar keine Klaviersonaten. Natürlich entsprechen allen unseren Gedanken irgendwelche materiellen Veränderungen im Gehirn, und auch bevor Gedanken ausdrücklich und klar werden, gibt es in der Erwartung eines Gedankens messbare Neurotransmitteraktionen. Doch wer das Klavier mit dem Komponisten oder dem Klavierspieler verwechselt, der würde einem ähnlichen Irrtum
aufsitzen wie der Gast im Restaurant, der die Speisekarte mit dem wirklichen Essen verwechselt und herzhaft in den Karton beißt. Kategorienfehler nennt das die Philosophie. Früher konnte man damit Witze bestreiten. Heute trauen sich viele in den heiligen Hallen esoterisch dreinblickender Hirnforscher kaum mehr, laut zu reden oder gar zu lachen, geschweige denn allzu drastischem Unsinn freimütig zu widersprechen. Es braucht schon Philosophen wie Jürgen Habermas, die den Schwindel entlarven und davor warnen, mit solch leichtfertigem Gerede gehe unsere freiheitliche Gesellschaftsordnung vor die Hunde.
Doch woran liegt die Attraktivität derartiger Theorien? Sie entlasten! Sie entlasten uns Normale von der immer unheimlicher werdenden totalen Verantwortung für den ganz normalen Wahnsinn, den wir Tag für Tag anrichten: Tut uns leid, wir waren es nicht, wir sind es nicht und wir werden es auch nicht gewesen sein! Bei unseren Neurotransmittern! - Wir sind nicht für all die Kriege, den massenhaften Hunger, die Ausbeutung von Mensch und Natur, wir Menschen sind nicht für all diese Menschenverachtung verantwortlich. Es sind die Neurotransmitter, die uns verachten. So haben wir es auf unterhaltsame Weise geschafft, uns selbst wegzuzaubern. Im Grunde gibt es uns gar nicht, wir sind jedenfalls an nichts schuld und so sind wir, »wissenschaftlich« abgesichert, unversehens jenseits von Gut und Böse gelandet. Da können wir uns wohlfühlen, unseren Urlaub genießen und die nächste Party. Nur wenn wir ein bisschen krank werden, gar unheilbar krank, dann müssen wir leider damit rechnen, dass die Neurotransmitter der anderen das gar nicht lustig finden. Zwar ist ein bisschen soziales Engagement fürs eigene Wohlfühlen und übrigens auch evolutionär ganz gut. Da zeigt sich, dass der Mensch doch Mensch ist, und kein Wolf. Doch bitte keine Übertreibung! Wenn Menschen auf dem Mond landen, dann wird man doch wohl durch humane Methoden jahrelange Pflegefälle vermeiden können! Leiden ist ein arger Neurotransmitternotstand für den Leidenden selbst, für die unter der Pflege leidenden Helfer und für die ganze Gesellschaft, die lieber Hüpfburgen als Dekubitusmatratzen finanziert. Hüpfburgen für Erwachsene nannte Mikas
Dekkers die gängigen schweißtreibenden Wellnessoasen. In dem Roman »Die Entbehrlichen« beschreibt die schwedische Autorin Ninni Holmqvist die Gesellschaft einer gar nicht so fernen Zukunft, in der alle über 50-Jährigen, die der Gesellschaft keine Kinder geschenkt haben, nach einem irgendwann erfolgten Parlamentsbeschluss in einen luxuriös ausgestatteten Bereich ausgelagert werden. Dort müssen sie für Organtransplantationen zur Verfügung stehen und vor allem bald - in angenehmer Atmosphäre - abtreten. Wer in letzter Konsequenz das größte Glück für die größtmögliche Zahl erreichen will, der kann da eigentlich nur zufrieden sein. Die Neurotransmitter lächeln.
Der ganz normale Wahnsinn spielt sich heute also nicht mehr bloß in abschreckenden Gestalten
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