Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde
political correctness wurde der Pranger wieder eingeführt. Am mittelalterlichen Pranger wurden Menschen auf einem öffentlichen Platz zur Strafe zur Schau gestellt mit einem Schild, auf dem ihr Vergehen genannt wurde. Man hält das heute für eine eklatante Verletzung der Menschenwürde. Doch zugleich hegt man keinerlei Bedenken, einen Menschen wegen einer nicht korrekten öffentlichen Äußerung in allen Medien der Lächerlichkeit und Verachtung preiszugeben. Am Pranger stand man im Mittelalter an einem bestimmten Ort nur für einige Stunden. Die Opfer der political correctness bekommen in der Regel lebenslang, und das überall. Denn über die elektronischen Medien wirkt eine öffentliche Diskreditierung weltweit und hat fast schon Ewigkeitscharakter. Man gewinnt den Eindruck, die Menschheit habe ein ebenso natürliches wie unstillbares, tiefliegendes Bedürfnis nach Inquisition. Und da die Kirche mit derlei Institutionen nicht
mehr aufzuwarten hat, haben wir die Inquisition demokratisiert. Jeder kann jeden zum abgefeimten Teufelsbraten, zur widerlichen Höllenbrut, zum unbelehrbaren Ketzer erklären. Neuere Forschungen haben ergeben, dass die wirkliche Inquisition nach strengen Regeln und somit erheblich zurückhaltender vorging, als es ihr monströser Ruf wahrhaben will. Vielfach verstand die Inquisition es als ihre Aufgabe, Opfern eines diffusen Volkszorns Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Hexenverfolgungen gab es nur in den Gegenden, wo die Inquisition nicht funktionierte, also nicht in Spanien, sondern in Deutschland. Doch heute gibt es für Opfer der political correctness keinen Gerichtshof, an dem sie sich verteidigen könnten. All die wahnsinnig Normalen pochen unerbittlich darauf, dass alle, wirklich alle, das sagen, was alle sagen, dass sie also normal reden. Und was normal ist, das bestimmen sie selbst, die wahnsinnig Normalen.
Kein Wunder also, dass alles Normabweichende für diese Normalen ein einziges Ärgernis ist. Gewiss, gegen Normabweichung nach oben traut man sich als einzelnes kleines graues Mäuschen nicht aufzubegehren. So kehrt sich aller unausgelebter Ärger gegen die da oben um in Aggression gegen die da unten. Nach oben ducken und nach unten treten, das können sie gut, die wahnsinnig Normalen. Sie halten das für ihr Recht, ihr Menschenrecht geradezu. Denn sind sie es nicht, die die ganze Gesellschaft am Laufen halten? Sind sie es nicht, die mit ihren Steuergeldern alles zahlen, die mit ihrem reibungslosen Gehorsam Sicherheit und Wohlstand von allen garantieren? Und so schießen sie sich ein auf die Ausländer, die Behinderten, die Gescheiterten einer Gesellschaft. Sie schießen zwar nur mit Worten, aber oft mit Worten wie Gewehrkugeln. Nicht leichtfertig reden sie so. Erst nach sorgfältiger Überprüfung, ob der andere auch normal denkt, sagen sie in wohliger Atmosphäre von Gleichnormalen, was sie alles so Normales denken. Die Ausländer sollten mal schön dahin gehen, wo sie hergekommen sind, die Gescheiterten seien ja schließlich selbst schuld, ohne Schweiß und Tränen gehe es im Leben halt nicht ab und die Behinderten, da gebe es doch inzwischen genaue Untersuchungen,
durch die man die Geburt von Behinderten verhindern könne: »So etwas muss doch heute nicht mehr sein...«
Eine dumpfe spießige Atmosphäre herrscht in solchen Kreisen. Das muss schon im alten Athen so gewesen sein, als Diogenes von Sinope am helllichten Tage vorbei an all den Normalen seiner Zeit mit einer Laterne durch Athen lief und auf die Frage, was er denn da mache, antwortete: Ich suche einen Menschen. Die wahnsinnig Normalen gab es offensichtlich zu allen Zeiten, und sie kommen aus allen Schichten der Bevölkerung. Auch Ärzte sind dabei. Die Euthanasiebewegung ist keineswegs von den Nazis erfunden worden, sondern von Ärzten, von Psychiatern. Der renommierte Kollege Hoche plädierte zusammen mit einem gewissen Herrn Binding im Jahre 1920, zu Zeiten also, als Hitler erst noch übte, dafür, »lebensunwertem Leben« einen »guten Tod« zu bereiten. Eu-thanasie heißt das griechisch übersetzt. Die Anormalen sollten die Gesellschaft der Normalen nicht mehr allzu sehr belasten. Es ist erfreulich, wenn Ärzte in Krankheiten Defizite sehen, die sie wegzumachen versuchen. Das schätzen wir an ihnen. Wenn sie aus ihrer gewerblichen Sicht der Dinge aber eine Weltanschauung machen, wird ärztliches Gerede menschenverachtend. Und diese Mentalität hat den Nationalsozialismus problemlos überlebt. Sie
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