Isegrim
schmiege mein Gesicht in seine Halsbeuge und er legt einen Arm um mich. Doch ich schweige.
2. Kapitel
G egen halb sieben gehen Kai und ich nach unten in die Küche, damit ich das Abendessen vorbereiten kann. Pa sitzt am Esstisch und liest Zeitung. Mein Vater mag Kai, was auf Gegenseitigkeit beruht. Vor ein paar Wochen hat Pa angefangen, Kai hin und wieder ein Bier anzubieten, wenn er abends bei uns ist. Okay, Kai ist fast siebzehn und alt genug für ein Bier, trotzdem gefällt mir das vertraute Getue ganz und gar nicht. SchlieÃlich ist Kai mein Freund und nicht der meines Vaters.
Vermutlich hört Pa schon die Hochzeitsglocken läuten. Ein schmuckes Häuschen auf dem verwilderten Grundstück nebenan, zwei wohlgeratene Kinder, Kai der neue Schafkönig von Altenwinkel und ich seine Schafhirtin.
Pustekuchen. Kai und ich haben andere Pläne. Nach dem Abi wollen wir zusammen fortgehen â weit fort. Nach Kanada. Das heiÃt: Ich möchte unbedingt nach Kanada und Kai hat ursprünglich von Neuseeland geträumt. Als ich ihm klarmachte, wie absurd das ist (er will weg von den Schafen seines Vaters und dann soll es ausgerechnet Neuseeland sein), hat er gelacht.
»Na gut, dann eben Kanada. Ich folge dir, wohin du willst, Jola.« Unsere Kanada-Pläne sind unser Geheimnis. Nicht mal unsere Freunde wissen davon. Niemand soll uns aufhalten, wenn es erst so weit ist.
Pa und Kai sitzen nebeneinander auf der Küchenbank, trinken Bier aus der Flasche und führen Männergespräche, während ich den Tisch decke und ihnen mit halbem Ohr lausche.
Mein Vater ist Revierförster. Seit ich laufen kann, nimmt er mich mit in den Wald, er hat mir alles beigebracht, was er über die Natur weiÃ. Ich kenne die Namen der wilden Tiere, weiÃ, wie sie leben, was sie fressen. Ich kenne die Namen der Bäume, Sträucher und der seltenen Gewächse und ich habe Pas guten Orientierungssinn geerbt. Es ist sein Verdienst, dass ich mich allein da drauÃen zurechtfinde und mich vor keinem Tier fürchte, auch vor Schlangen und Wildschweinen nicht.
Meine Mutter kommt von der Terrasse herein und zwei Minuten später verabschiedet sich Kai. Ma ist ihm unheimlich. Er gibt das nicht zu, aber ich weià es. Dass meine Mutter, wenn die Angst sie fest im Griff hat, manchmal tagelang das Haus nicht verlässt, stuft Kai unter verrückt ein, wie die anderen Dorfbewohner auch. Obwohl die Leute meistens so tun, als wäre alles in bester Ordnung mit Ulla Schwarz, denn schlieÃlich ist sie die Frau des Försters und der ist ein angesehener Mann in Altenwinkel.
Ma ist nicht verrückt, ihr fehlt nur manchmal die Kraft, sich den alltäglichen Gefahren des wirklichen Lebens zu stellen. Stattdessen sitzt sie lieber in ihrer Schreibstube und lässt ihre kleinen Romanhelden Abenteuer bestehen, die höchstens mal mit einer blutigen Nase enden. Eine verfallene Burgruine bei Nacht, ein dunkler Höhlengang, ein zähnefletschender Hund ohne Kette â was Zehnjährige eben aufregend finden. Ma ist eine Meisterin darin, heile Welten zu erschaffen.
»Hat einer von euch meine karierte Fleecedecke gesehen?« Streng schaut Ma uns an. »Ich habe sie gestern Abend auf der Terrasse liegen lassen, jetzt ist sie weg.«
Pa und ich schütteln mit geübten Unschuldsminen den Kopf. Ma hasst es, wenn jemand ihre Sachen nimmt oder verlegt, und wir beide versuchen, alles zu vermeiden, was ihren Unmut erregen könnte.
»Tja«, meint sie achselzuckend, »dann haben sie wohl die Böhlersmännchen geholt.«
Gemeinsames erleichtertes Ausatmen. Obwohl die saloppe Antwort keineswegs bedeutet, dass sie von unserer Unschuld überzeugt ist. Einer alten Sage nach sind die Böhlersmännchen kleine hilfreiche Wichtel, die im Böhlersloch am Sonnenberg wohnen. Ma hat die Decke garantiert selbst verschusselt und wird sie hoffentlich schnell wiederfinden, sonst hängt tagelang der Haussegen schief, das kenne ich schon.
SchlieÃlich entdeckt Ma die Kratzer auf meiner Wange. Wortlos holt sie ein Fläschchen Cutasept aus dem Medizinschrank, hält meine rechte Wange ins Licht und besprüht sie mit Desinfektionsspray. Es brennt wie verrückt, aber über meine Lippen kommt kein Laut, diese BlöÃe gebe ich mir nicht.
Natürlich will Ma wissen, wo und wie das passiert ist.
Während des Abendessens erzähle ich meinen Eltern vom Nest des seltenen Raubwürgers,
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