Isis
besaß sie nicht länger die Kraft, den Namen der Freundin zurückzuhalten. »Hol Selene!«
»Ganz ruhig!« Der fremde Akzent war nur noch zu erkennen, wenn man genau hinhörte. Eine schlanke, große Frau stand im Raum, deren Haar wie ein Feuerkranz um das längliche Gesicht leuchtete. Ihr Blick flog über Sarits Lager, dann zu Ruza, die ihr reserviert entgegenstarrte. »Und bereits mitten in der Arbeit, wie ich sehe. Weshalb habt ihr mich nicht schon längst gerufen?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, löste Selene das Brusttuch, in das sie ihre Tochter gewickelt hatte, und legte diese kurzerhand in die Binsenwiege. Dem etwa halbjährigen Mädchen mit dem dunklen Schopf schien dieser Wechsel ganz und gar nicht zu behagen, denn augenblicklich ertönte empörtes Schreien.
»Offensichtlich hat Isis nicht nur mein Temperament geerbt, sondern auch die Sturheit ihres Vaters«, sagte Selene und lächelte, während sie ihr zur Beruhigung einen Honigzipfel in den Mund schob, den die Kleine immer wieder ausspuckte, bis sie endlich doch zu nuckeln begann. Anschließend schickte Selene die Amme mit knappen Worten zum Wasserholen.
Sichtlich unwillig gehorchte Ruza.
»Hast du auch alles mitgebracht?«, flüsterte Sarit, kaum dass die Tür sich hinter der Amme geschlossen hatte. »Ich will es ihr erst geben, wenn sie das Haus mit dem Kind endgültig verlässt. Die Versuchung ist sonst zu groß.«
»Aber ja!« Selene nahm ihren gewebten Gürtel ab, der sich beim näheren Hinsehen als raffiniert geschneiderte Beuteltasche mit mehreren versteckten Fächern erwies. Sie bewegte ihn leicht hin und her und ließ dabei die unsichtbaren Schmuckstücke klappernd aneinander stoßen. »Und du hast Recht, vorsichtig zu sein. Ich bin froh, dass nicht einmal Nezem etwas davon zu Gesicht bekommen hat. So viel Gold kann sich ungünstig auf jeden Charakter auswirken.«
Lachend legte sie den Gürtel wieder um. »Du hast also endlich mit Ruza gesprochen? Sie hilft dir?«
»Sie muss!« Sarits Ausdruck verriet ihre Anspannung.
»Warum bei allen Göttern kannst du nicht an ihrer Stelle sein? Es gibt niemanden, dem ich das Kleine lieber anvertrauen würde.«
»Als ob ich meinen Mondstrahl jemals verlassen könnte!«
Ein inniger Blick zur Wiege, in der das kleine Mädchen schlief. Dann wandte sie sich wieder Sarit zu. »Klüger wäre es natürlich gewesen, nicht so schnell wieder schwanger zu werden, auch wenn dein Mann noch so sehr darauf gedrängt hat. Männer, was wissen sie schon? Söhne verlangt er von dir. Dabei sind doch Töchter das Kostbarste, was Isis einer Frau schenken kann.«
Die Gebärende stöhnte schmerzerfüllt.
Selenes Gesichtszüge wurden weich. »Aber was rede ich da?
Mächtigere als wir lenken die Geschicke. Und überhaupt ist es höchste Zeit, nur noch an dich zu denken — und an dieses neue Leben, das es plötzlich so eilig hat. Jetzt wollen wir erst mal Platz schaffen!«
Sie räumte die Tawaret-Figuren so energisch zur Seite, dass eine davon umfiel und zerbrach. Abergläubisch sog Sarit die Luft zwischen die Zähne, Selene aber kümmerte sich nicht darum, sondern kehrte die Scherben zusammen, wechselte die Tücher und rieb ihre Freundin behutsam trocken.
Danach wusch sie ihr Hände und Arme. Aus einem kleinen Tiegel salbte sie Sarits Scheitel.
»Herab zur Erde. Breite Deine Arme aus! Große Mutter, die alles Lebende hervorbringt, schütze und bewahre diese Mutter!« Mit einem Räuchergefäß fuhr sie dicht an Sarits Leib entlang.
»Was ist das? Mir wird ganz schwindelig«, flüsterte Sarit.
»Minze, Weihrauch und eine Prise Mandragora. Das nimmt dir die Angst.« Anschließend vollführte Selene mit einer Scherbe symbolische Schneidebewegungen. »Löse dich aus dem Bauch deiner Mutter und lebe glücklich und in Frieden!«
Sarit wirkte endlich ruhiger. Auf ihrer etwas zu kurzen Oberlippe glitzerten Schweißperlen, die den zuvor so angespannten Mund weich, fast mädchenhaft wirken ließen.
Das Henna auf ihren Nägeln leuchtete wie frisches Blut.
»Ich mag ihn nicht«, sagte sie unvermittelt. »Und inzwischen verabscheue ich ihn manchmal sogar. Aber mein Körper sehnt sich trotzdem noch immer nach ihm. Kannst du dir das vorstellen? Dabei traue ich Basa zu, dass er mich mit bloßen Händen erwürgt, wenn er endgültig genug von mir hat.«
Selene strich ihr das feuchte Haar aus der Stirn.
»Schluss jetzt mit diesen düsteren Gedanken! Willst du Safrantee? Oder nicht doch lieber von den Weihrauchzäpfchen, die ich
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