02 - Hinter goldenen Gittern - Ich wurde im Harem geboren
Choga Regine Egbeme
Hinter goldenen Gittern
Ich wurde im Harem geboren
Vorwort
Ich bin 25 Jahre alt, mein Sohn Joshua ist fast sechs. Zurzeit geht es uns beiden ganz gut. Wir hoffen, dass der Ausbruch der Krankheit möglichst lange auf sich warten lässt. Ich versuche, uns nach bestem Wissen mit den Mitteln der Natur zu schützen. Westliche Medizin können wir uns nicht leisten. Ich wache jeden Tag mit dem Bewusstsein auf, morgen oder übermorgen alles zu verlieren - meinen Sohn, mein Leben. Unendlich traurig macht mich der Gedanke, womöglich nicht miterleben zu können, wie mein kleiner Josh aufwächst, niemals seine Kinder in meinen Armen wiegen zu dürfen: dass irgendwann das unsichtbare Band aus Liebe und Wissen, das die Generationen zusammenhält, abreißt.
Während meiner Schwangerschaft mit Joshua bat mich meine mütterliche Freundin Amara, meine Geschichte aufzuschreiben, damit ich mit dem Schrecklichen, das mir zugestoßen ist, besser fertig werde. Nachdem ich vor etwas mehr als einem Jahr zum ersten Mal meine deutsche Halbschwester Magdalena getroffen habe und sie von den Notizen hörte, ermunterte sie mich, diese zu vervollständigen.
Meine Zustimmung zur Veröffentlichung meines Manuskripts gab ich unter einer Bedingung: Die Namen und die genauen Lebensumstände aller betroffenen Personen (mich eingeschlossen) werden verändert. Denn Joshua soll niemals die genauen Hintergründe seiner Herkunft erfahren. Wenn Sie unsere Geschichte kennen, werden Sie das verstehen. Körperlich trägt er bereits seit der Geburt ein Stigma. Möge seine Seele rein bleiben.
Dank gesagt sei allen, die dieses Buch erst möglich gemacht haben. Ohne manche von ihnen würden Joshua und ich heute nicht mehr am Leben sein.
Gott schütze und segne Sie.
Jeba, im Mai 2001 Choga Regina Egbeme
Die fremde Schwester
Auf Mutters Nachttisch im Harem stand immer das Foto eines zehnjährigen Mädchens. Niemals lag ein Staubkorn darauf. Mit diesem Bild bin ich aufgewachsen.
„Das ist deine Schwester“, hatte Mutter mir irgendwann einmal erklärt. „Du kannst stolz auf sie sein.“ Magdalena trug einen Kranz aus weißen Blumen in den blonden Haaren. Mutter erzählte mir, dass es Margeriten seien, die in Deutschland den Sommer über an den Rändern der Felder und auf den Wiesen blühten.
Ich stellte mir oft vor, wie Magdalena über eine grüne Wiese lief und Margeriten pflückte. Manchmal habe ich auch von ihr geträumt, habe versucht, sie zu fangen. Aber sie war immer viel schneller als ich. Nichts hatte ich mir sehnlicher gewünscht, als meine deutsche Schwester kennen zu lernen. In meiner Vorstellung war Magdalena immer das Mädchen auf der Wiese.
Dann kam eines Tages ein Brief von ihr. Magdalena hatte sich entschlossen, uns zum ersten Mal zu besuchen. Sie hatte ein Foto beigelegt. Ich blickte in das Gesicht einer völlig fremden Frau. Aus dem Mädchen mit den neugierigen blauen Augen und den halblangen blonden Haaren, die ihr in sanften Locken auf die Schultern fielen, war eine Frau mit kastanienbraunem, kurzem Haar geworden, die mich durch ihre strenge Brille nachdenklich ansah. Das Mädchen aus meiner Kindheit war inzwischen eine 41 Jahre alte Lehrerin aus Deutschland. Mir wurde bang. Denn zum ersten Mal wurde mir richtig bewusst, dass ein großer Teil meines Lebens bereits vorüber war.
Meine eigene Jugend, meine Sorglosigkeit, ja, auch ein Teil meiner Hoffnungen.
Mutters Freundin Amara begleitete mich zum Flughafen. Es war Karfreitag. Um mich herum tobten Kinder, Frauen lachten und Männer begrüßten sich lautstark.
Alle Menschen wirkten so glücklich, als ob sie etwas ganz Besonderes geschenkt bekämen. Und ich stand mitten unter ihnen. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Kopfschmerzen und Durst plagten mich gleichzeitig. Das Herz schlug mir bis zum Hals, ich schwitzte. Immer wieder starrte ich auf das Foto in meinen feuchten Händen, hob die Augen und suchte die Menschenmenge ab, die aus dem Ankunftsbereich herausströmte. Zufriedene Gesichter strahlten mich an, Reisende, die nach acht Stunden endlich aus dem Flugzeug steigen durften und sich in die Arme von Verwandten stürzten.
Das Foto brauchte ich nicht, um Magdalena zu erkennen. Es waren ihre Augen.
Mamas Augen - sie hatte immer diesen leicht fragenden Blick gehabt. Als wollte sie alles ganz genau wissen. Erkennen, ob man es gut mit ihr meint. Manchmal lag auch ein wenig Angst in ihren Augen.
Amara hat dieser Angst einen Namen gegeben: „Die Menschen wissen
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