Isis
verzweifelt, wenn es mir nicht gelang.«
»Du bist das, was deine Mutter sich immer ersehnt hat«, sagte ich, »das größte, schönste Geschenk.«
Jetzt lächelte sie mich zum ersten Mal voll an.
»Etwas Wichtiges hast du noch vergessen«, sagte sie und zog die Brauen hoch. »Dich.«
»Mich? Ich floh vor den Medjai, vor den Gedanken an Anu, Khay und Basa, vor meinen eigenen Gefühlen. Die Nacht mit Isis hatte mich zutiefst verwirrt. Auf einmal wusste ich nicht mehr, was richtig war und was falsch. Die Seherin — verstehst du — war plötzlich blind geworden.«
»Hast du damals deine Gabe verloren?«, fragte Isis.
Ich nickte. »Ich merkte es nicht sofort, vielleicht weil ich zunächst sehr krank war. Auf meiner Flucht geriet ich in eine Tierfalle und musste das Eisen lange mitschleppen. Ein Bauer befreite mich schließlich daraus, aber den Zeh konnte man nicht mehr retten. Nur der geflügelten Göttin habe ich zu verdanken, dass ich überlebte. Es waren einfache Leute, die mich gepflegt haben, und sehr fromme. Isis war die Göttin, zu der sie Tag und Nacht für mich gebetet haben. Seitdem weiß ich, dass mein Leben der Mutter aller Mütter gehört.«
Der Blick des Mädchens schoss zur Statue. »Ist sie das?«, sagte sie. »Ist das Selene? Ich wollte dich schon die ganze Zeit danach fragen.«
»Ja, es ist Selene«, sagte ich. »Aber die Göttin selbst hat das Antlitz jeder Frau. Das Bild, das Nezem damals gemacht hat, hat er mit ins Grab genommen. Erst viel später, als ich schon wieder lange im Tempel lebte, kam plötzlich dieses Geschenk zu mir.«
»Ich weiß, von wem es stammt«, sagte Isis.
»Ich auch«, sagte ich lächelnd. »Und ich denke, du bist hier, um die Figur wieder nach Hause zu bringen.«
Ich stand auf, ganz steif vom langen Sitzen, und ging zu der Statue. Im ersten Morgenlicht schimmerten die Schwingen rötlich. Die Skulptur wog schwer in meinen Händen. Der Abschied fiel mir leicht.
Es gab keine Regeln in der Liebe, keine Gesetze, das wusste ich nach dieser Nacht. Ich zögerte nicht länger, mich der Liebe so zu unterwerfen, wie Sie es mich gelehrt hatte.
»Für dich«, sagte ich und legte die Statue in ihren Schoß.
»Für dich - Isis.«
NACHWORT
»Allzu oft wird die Geschichte der ägyptischen Kunst nur bis zum Ende des Neuen Reiches abgehandelt«, heißt es in dem beeindruckenden Kunstband »Ägypten - Spätzeit und Hellenismus« von Jean Leclant. »Mit ein paar verächtlichen Zeilen verunglimpft man den Rest als einen langen Niedergang.« Kaum anders ergeht es der politischen Geschichte des Nilreiches. »Das pharaonische Ägypten verbinden wir vor allem mit den drei machtvollen Perioden des Staates - dem Alten, Mittleren und Neuen Reich«, schreibt Karol Mysliwiec in »Herr Beider Länder«, einer informativen und spannenden Analyse über Ägypten im 1. Jahrtausend v. Chr., die ich für Interessierte zur Vertiefung des Themas besonders empfehlen möchte.
Was geschah jedoch in Ägypten zwischen 1070 und 332 v. Chr., das heißt im Lauf der mehr als sieben Jahrhunderte, die vom Untergang des Neuen Reiches bis zu den Eroberungen Alexanders des Großen vergangen sind?
Was nicht länger Bestand hat, ist das triumphierende ägyptische Großreich. In einer Zeit sich ständig und rasch verändernder politischer Konstellationen erlebt das Land am Nil erst unter den schwarzen Pharaonen Pianchi (730-713), Schabaka (um 713-698) und schließlich Taharka (690-664) wieder eine Art Renaissance, wenngleich Historiker diese kulturell und besonders architektonisch fruchtbare Epoche der »Äthiopenzeit« lange als bloße Episode abgetan haben.
Als Taharka 664 stirbt und ihm sein Neffe Tanutamun als Pharao folgt, ziehen assyrische Truppen nach Kernet, erobern Mennefer (Memphis) und zerstören Waset (Theben, heute Luxor). Tanutamun flieht nach Kusch; der nächste Pharao heißt Psammetich (664-610), stammt aus dem Delta und ist - zunächst - ein treuer Gefolgsmann des assyrischen Herrschers Aschurbanapli, heute besser bekannt unter dem Namen Assurbanipal. Nach einer Phase der Konsolidierung zögert Psammetich nicht, die Einheit, vor allem aber die Unabhängigkeit des Reiches von Lotos und Papyrus wiederherzustellen.
Von nun an orientiert sich Ägypten zum Mittelmeer hin. Das gesamte Deltagebiet mit der immer wichtiger werdenden Stadt Sai's öffnet sich für den Handel mit Griechen und Phöniziern und überholt nach und nach das vormals so wichtige Oberägypten, bislang Hüterin der
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