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Isle of Night Bd. 1 - Die Wächter

Isle of Night Bd. 1 - Die Wächter

Titel: Isle of Night Bd. 1 - Die Wächter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronica Wolff
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Ich sah mich noch einmal in meinem Zimmer um.
    Ich zog aus. Endlich. Für immer und ewig.
    Sollte ich je in dieses hinterletzte Florida-Kaff namens Christmas zurückkehren, dann in einem Sarg. Also musste ich mich vergewissern, dass ich alles hatte. Ich fischte den iPod aus dem Außenfach meiner alten Reisetasche und drückte auf Play. Während ich die Ohrstöpsel einsetzte, machte ich noch mal eine rasche Bestandsaufnahme meiner Habe.
    Ich hatte meine Klamotten, klar. Nur das Nötigste. Die Abendschicht bei Fuddruckers brachte nicht die Knete für die coolen Mode-Labels. Was ich so besaß, war meist billig und in der Regel schwarz, wenngleich ich auch das eine oder andere edle Teil ergattert hatte. Ein Original-Pretenders- T -Shirt. Fingerlose Handschuhe in Schwarz, endkrass. Ein Paar echte Converse, bequem, weil eingelaufen, aber sonst so gut wie neu.
    Es waren die Bücher, die meine Tasche so schwer machten. Ich hatte ein wenig Sorge, dass der Reißverschluss den Geist aufgeben würde, aber die Bücher konnte ich auf gar keinen Fall zurücklassen.
    Vor allem mein Englisch-Französisch-Wörterbuch nahm gigantisch viel Platz weg – eine ungekürzte Ausgabe, die mich Wochen hart erarbeiteter Trinkgelder gekostet hatte. Aber sie war für mich eine Art Eintrittskarte ins Gelobte Land. Eines Tages würde ich nach Paris fliegen, in Bistros rumsitzen, Madeleines knabbern und mich mit den wichtigen Fragen des Lebens befassen.
    Und dann war da noch mein größter Schatz – ein gerahmtes Bild meiner Mutter, das ganz obenauf lag. Ich befühlte die harten Kanten durch den Stoff der Reisetasche, um mich zum x-ten Mal zu vergewissern, dass ich es eingepackt hatte.
    Ich war erst vier gewesen, als sie starb. Aus irgendeinem Grund gaben sich alle die größte Mühe, mir einzureden, ich könnte mich unmöglich an sie erinnern. Aber sobald ich einen heimlichen Blick auf ihr Foto warf, hörte ich den Klang ihrer Stimme und roch den frischen Zitronenduft, der sie umgeben hatte. Mit ihrem hellblonden Haar und den riesigen Augen sah sie aus wie Uma Thurman, und ich stellte sie mir gern in einem engen gelb-schwarzen Hosenanzug vor, wie sie Dad in Kill-Bill-Manier einen Tritt in den Arsch gab.
    Dad. Ah, sein Zorngebrüll und der Gestank von abgestandenem Bier. Selbst wenn ich könnte – diese beiden Erinnerungen würde ich nicht in meiner alten Reisetasche verstauen.
    »Bye-bye, mein allerbester Daddy! Ich bin dann mal weg! Auch wenn es dir vielleicht nicht weiter auffällt.« Ich zog meinen iPod noch einmal aus der Tasche und durchsuchte die Playlist nach meinem Lieblingssong von Radiohead. Während ich einen allerletzten Blick in meine Schubladen warf, grölte ich aus vollem Hals den Text mit: »I don’t belong here …«
    »Annelise Drew!« Jemand hämmerte gegen meine Zimmertür. »Halt um Himmels willen dein verdammtes Maul!«
    Ich verdrehte genervt die Augen. Das war meine Stiefmutter. Die Vollzicke.
    Also drehte ich den Sound bis zum Anschlag und sang noch lauter. »But I’m a creep …«
    »Ich versuche mich gerade ein wenig auszuruhen«, kreischte sie von der anderen Seite der Tür.
    »Ach ja?« Ich riss die Ohrstöpsel raus. »Weil es elf Uhr vormittags ist und du seit dem frühen Morgen geschuftet hast wie ein Tier?«
    »Du hältst dich wohl für was Besseres«, keifte sie. »Für ein Genie! Bloß weil du ein Semester an der Highschool überspringen durftest! Ich will dir mal was sagen: Für mich bist du nichts Besseres! Für mich bist du ein Freak!«
    Ich grinste, weil ihre Worte so gut zum Text des Songs passten, und öffnete die Tür. Ihr blasses, fertiges Gesicht starrte mir entgegen. The Yatch. Die Vollzicke. Meine Lieblingsbezeichnung für sie, abgeleitet aus ihrem Vornamen: Beatrice … Beeyatch … Yatch.
    »Was grinst du so blöd?« Der blaue Fleck auf ihrer Wange hatte sich zu einem kränklichen Gelb verfärbt.
    In der Dusche gestürzt. Schon wieder, wer’s glaubt … Frag Daddy!
    Ich schüttelte den Kopf. Wir hatten eine Zweizimmerwohnung. Mit dünnen Wänden. Ich war auch schon oft »in der Dusche gestürzt«.
    »Verschon mich mit deinem überheblichen Getue, du dummes Ding!« Sie schob sich an mir vorbei und ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen, als hätte sie mich bei dem Versuch erwischt, das Familiensilber zu klauen. »Habe ich jemals ein Dankeschön gehört? Für alles, was ich in den letzten Jahren für dich getan habe?«
    »Nein«, entgegnete ich nach einem Moment angestrengten Nachdenkens.

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