Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)
über die wir uns, darüber bestand Konsens, ohne Zögern hinwegsetzen sollten. Auch schien es, dass Kafka ein äußerlich sonderbar konventionelles, unfreies Leben führte, ein Beamter mit wenigen Freunden, der wenig sah von der Welt, verstrickt in familiäre Abhängigkeiten und ohne die Erfahrung einer gelingenden erotischen Beziehung. Ein Asket, der alles auf eine einzige Karte setzte und der für eine hochspezialisierte künstlerische Leistung, deren Ertrag er nicht einmal genießen durfte, sein übriges Leben buchstäblich hingab. Das war keiner, mit dem irgendjemand würde tauschen wollen, am wenigsten ein Schriftsteller.
Dieses grob gerasterte Bild hat sich innerhalb eines dreiviertel Jahrhunderts immer weiter ausdifferenziert, und je überzeugender die Erklärungen dafür wurden, in welcher Weise Kafkas Werk mit seiner so überaus verwinkelten jüdisch-katholischen, deutsch-tschechischen Lebenswelt zusammenhängt, desto einleuchtender wurden auch die Widersprüche und Sonderbarkeiten seiner psychischen Gestalt. Das Geheimnis seiner beispiellosen Produktivität blieb zwar weitgehend unangetastet, und noch immer ist es eine prinzipiell unabschließbare Aufgabe, Kafka zu ›verstehen‹. Dennoch besitzen wir heute – als Ertrag einer jahrzehntelangen weltweiten, fachübergreifenden Forschung – eine sehr präzise Vorstellung sowohl dieses Menschen als auch seiner Lebenswelt.
Davon völlig unbeeindruckt hat sich jedoch im kulturellen Vorbewussten die Stereotype einer Dichter-Imago erhalten, die Kafka zu einer Art Alien macht: weltfremd, neurotisch, introvertiert, krank, ein Mann, der unheimlich ist und Unheimliches hervorbringt. Es ist nur ein Abziehbild, aber ein sehr wirkungsmächtiges. Denn wenngleich es vor allem literaturferne Massenmedien sind, die solche Mythen am Leben erhalten, so ist es auch für erfahrene Leser außerordentlich schwierig, sich dem Sog der kulturellen Stereotype zu entziehen. Sie entfaltet ja ihre Wirkung vor allem über bildhafte Vorstellungen, und diese bleiben lebendig, solange wir sie attraktiv finden: regenfeuchtes Kopfsteinpflaster in einer nächtlichen Prager Gasse, im Gegenlicht der Gaslaternen … verstaubte Aktenberge im Kerzenschein … der Alptraum eines riesigen Ungeziefers … das alles ist ›Kafka‹, ganz gleich, was die Literaturwissenschaft uns erzählt.
Man kann gegen Bilder nur schwer argumentieren, doch man kann sie durch Gegenbilder in ihrem angemaßten Monopol ein wenig erschüttern. Die 99 Fundstücke zu Leben und Werk Franz Kafkas zeigen ihn in ungewohnten Kontexten, in ungewohnter Beleuchtung, und sie lassen selten wahrgenommene Ober- und Untertöne vernehmen. Sie bedeuten, je für sich betrachtet, nicht allzu viel: eine Spurenlese, die auch Unscheinbares aufsammelt, manchmal auch bloß einen neuen Blick auf Bekanntes festhält oder Kafkas Spiegelbild in den Erinnerungen anderer zitiert. In der Summe jedoch – und dies ist das wesentliche Kriterium, nach dem die Fundstücke ausgewählt wurden –, in der Summe entfremden sie uns unmerklich dem Klischee und lassen ahnen, dass es vielleicht doch lohnend sein könnte, andere Zugänge zu Kafka zu erproben, Zugänge, die immer schon da waren, die aber von ›kafkaesken‹ Bildern und Assoziationen gleichsam verklebt waren und in Vergessenheit gerieten.
Kafkas Sensorium für alles Komische spielt dabei eine herausragende und auch paradigmatische Rolle. Denn seine Komik ist keineswegs bloß abgründig, wie man angesichts der Unauslotbarkeit seiner Texte vielleicht annehmen würde; sie ist ebenso naiv, slapstickhaft, erfüllt von der Freude an Wortwitz und Pointe, am Hantieren mit Motiven, Perspektivwechseln und szenischen Einfällen. Kafkas künstlerische Anstrengung, so tödlich ernst er sie phasenweise nahm, bewahrte sich fortwährend ein spielerisches Moment, das er glücklich zu genießen durchaus imstande war. Er führte dieses Spiel fort über die Grenzen der Literatur hinaus, in Briefen und Tagebüchern, schließlich auch in Gesten und Episoden des alltäglichen Lebens, zumeist völlig bewusst, bisweilen auch unfreiwillig, aber stets mit der für ihn charakteristischen, eigensinnigen Konsequenz.
In diesem Sinne ist es wahr, dass Kafkas ganzes Leben Literatur war. Dann aber ist es nicht sehr bedeutsam, was wir uns zuerst vornehmen, um einen anderen Blick auf Kafka zu versuchen und uns seiner Erfahrungswelt und seinem Leben in der Sprache auf anderen, weniger abgenutzten Wegen zu nähern: einen
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