Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)
Ältesten in unserer Klasse an, der schon einen guten Ruf als Frauenheld hatte, mit dem Auftrag, mit der Haushälterin Bekanntschaft zu schließen. So geschah es: Er führte sie mehrmals zum Dinner, zum Tanz und ins Theater aus, und drei Wochen später warteten wir gespannt an einem Samstagabend in einem nahegelegenen Kaffeehaus auf das Notizbuch. Wir erhielten es tatsächlich, kopierten die ersehnten Notizen ab, und eine Stunde später war es wieder in der Tasche des Professors. Einer der Kopisten war unser Kafka. Natürlich bestanden wir unsere mündliche Griechisch-Prüfung alle mit wehenden Fahnen – wir hatten die Vorkehrung getroffen, dass die Schwächeren einige Fehler und Irrtümer einstreuen mussten, um keinen Verdacht zu erregen. Der Vorsitzende der Kommission war sehr erfreut, wie auch unser Professor: Er erhielt sogar eine spezielle Empfehlung für seine herausragenden Ergebnisse mit einer durchschnittlichen Klasse und war stolz darüber.
Gustav Adolf Lindner
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Das Zeugnis der Reife
Die Prüfungen zum Abitur (österreichisch Matura oder Maturität) legte Kafka im Jahr 1901 am Altstädter Gymnasium in Prag ab, als einer der Jüngsten seines Jahrgangs. Zunächst hatten die Schüler Anfang Mai zu vier schriftlichen Examina zu erscheinen, in den Hauptfächern Deutsch, Latein, Griechisch und Mathematik. Im Juli, kurz nach Kafkas 18. Geburtstag, folgte dann eine Reihe mündlicher Prüfungen, wobei wiederum Übersetzungen aus den alten Sprachen gefordert waren – eine hohe Hürde, vor der auch Kafka sich derart fürchtete, dass er bereit war, unlautere Mittel einzusetzen (siehe Fundstück 2).
Kafkas Abiturzeugnis ist unauffällig und ragt über den Durchschnitt kaum hinaus. In keinem Fach gelang es ihm, die Bestnote vorzüglich zu erreichen, in keinem Fach wurde er schlechter als befriedigend beurteilt. Als besonders befremdlich erscheint, dass er selbst im Fach Deutsch über ein befriedigend nicht hinauskam, obgleich er, wie frühe Briefe zeigen, im sprachlichen Ausdruck seinen Mitschülern zweifellos überlegen war. Allerdings flossen in die Abiturnote auch freie Redeübungen ein, die nicht eben Kafkas Stärke waren.
Außer dem Maturitätszeugnis sind keine originalen Dokumente überliefert, die sich auf Kafkas Reifeprüfung beziehen. Insbesondere sein Abituraufsatz ›Welche Vorteile erwachsen Österreich aus seiner Weltlage und aus seinen Bodenverhältnissen?‹ wurde bisher nicht aufgefunden.
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Hotel Kafka
Das vornehme Hotel ›Zum blauen Stern‹ am Graben, der deutschen Flaniermeile in der Prager Altstadt, war für Kafka der Ort einer nachhaltigen Erinnerung. In diesem Hotel nämlich hatte Felice Bauer am Tag ihrer ersten Begegnung logiert, am 13. August 1912, und zu diesem Hotel hatte er sie am späten Abend jenes entscheidenden Tages begleitet, gemeinsam mit dem Vater seines Freundes Max Brod.
Beim Eintritt ins Hotel drängte ich mich in irgend einer Befangenheit in die gleiche Abteilung der Drehtüre, in der Sie giengen, und stiess fast an Ihre Füsse. – Dann standen wir alle drei ein wenig vor dem Kellner bei dem Aufzug, in dem Sie gleich verschwinden sollten und dessen Türe schon geöffnet wurde. Sie führten noch eine kleine sehr stolze Rede mit dem Kellner, deren Klang ich – wenn ich innehalte – noch in den Ohren habe. Sie liessen es sich nicht leicht ausreden, dass zu dem nahen Bahnhof kein Wagen nötig sei.
Wenn Kafka in den folgenden Monaten, wie es gelegentlich vorkam, schon zu früher Stunde durch den Graben ging, dann kam er »vorbei am zwar schon beleuchteten, aber verhängten Frühstückzimmer des ›Blauen Stern‹, nun schaut zwar wieder jemand verlangend hinein, aber niemand mehr auf die Gasse heraus«. Während die unscheinbare Episode für Felice Bauer kaum von Bedeutung gewesen sein dürfte, flocht Kafka sie ein in ein ganzes Netz symbolischer Beziehungen, das er zwischen sich und die spätere Verlobte legte und mit dem er die unabweislichen Gegensätze und Fremdheiten zu überbrücken hoffte.
Dabei hat er, kurioserweise, den auffälligsten Wink des Schicksals gar nicht bemerkt. Das Hotel ›Zum blauen Stern‹ war nämlich einst, ab dem Jahr 1771, im Besitz einer Familie Kafka, und bis in die dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts hieß der Eigentümer tatsächlich Franz Kafka. Der nicht abergläubische, für solche Koinzidenzen aber sehr empfängliche Kafka wusste davon offenbar nichts – er hätte sich andernfalls die Sensation in seinen Werbebriefen an
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