Jack McEvoy 01 - Der Poet
müssen. Ich wusste nicht, ob ich imstande sein würde, das durchzustehen.
»Irgendwann«, fuhr Backus fort, »wird Rachel Ihre Nachricht erhalten. Aber sie wird Sie nicht anrufen. Stattdessen wird sie rausbekommen, zu welchem Haus die Telefonnummer gehört, und dort hinfahren. Zu Ihnen, Jack. Um eine von zwei Sachen zu tun.«
»Nämlich?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort bereits ahnte.
»Sie wird entweder versuchen, Sie von ihrer Unschuld zu überzeugen ... oder Sie umzubringen. Rachel wird glauben, Sie wären der Einzige, der Bescheid weiß. Sie muss Sie überzeugen, dass das alles bloße Hirngespinste sind, oder ...«
Ich nickte beklommen.
»Aber wir werden da sein. Bei Ihnen im Haus, ganz in der Nähe.«
Das war nicht sehr tröstlich. »Ich weiß nicht...«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Jack«, sagte Backus und klopfte mir leicht auf die Schulter. »Ihnen wird nichts passieren. Diesmal werden wir es richtig machen. Wichtig ist nur, dass Sie sie zum Reden bringen. Wir brauchen ein Geständnis, Jack. Bringen Sie sie dazu, wenigstens einen Teil der Geschichte des Poeten zuzugeben, alles andere erledigen wir dann.«
»Ich werde es versuchen.«
»Sie schaffen es bestimmt.«
Auf dem Mulholland Drive bog Backus, Carters Anweisungen folgend, nach rechts ab, und wir folgten einer Straße, die sich auf der Bergkuppe entlangschlängelte und von der aus man durch den Abenddunst in das Valley hinuntersehen konnte. Nach ungefähr einer Meile Serpentinen gelangten wir zum Wrightwood Drive, bogen nach links ab und erreichten ein Stückchen weiter bergab eine Ansammlung von kleinen, auf Stahlpfosten errichteten Häusern. Ihr ganzes Gewicht hing auf diesen Pfosten über der Bergflanke - riskante Zeugnisse der Ingenieurskunst und des Ehrgeizes der Bauplaner, jedem Berghang der Stadt ihren Stempel aufzudrücken.
»Können Sie sich vorstellen, dass in diesen Dingern Leute wohnen?«, fragte Backus.
Er fuhr langsam, schaute nach den auf den Bordsteinen aufgemalten Hausnummern.
Ich lugte zwischen den Häusern hindurch. Unten im Valley wurde es dunkel. Die Lichter gingen an. Schließlich brachte Backus den Wagen vor einem Haus an einer Kurve zum Stehen.
»Das ist es.«
Es war ein kleines Fachwerkhaus. Von der Straße aus waren die Stahlpfosten nicht zu sehen; es schien über dem Steilhang zu schweben. Wir betrachteten es beide ein paar Sekunden lang, ohne Anstalten zum Aussteigen zu machen.
»Was ist, wenn sie über das Haus Bescheid weiß?«
»Rachel? Bestimmt nicht. Ich habe selbst erst von Clearmountain davon erfahren. Er hat es im Laufe einer Unterhaltung zufällig erwähnt. Einige Leute vom Field Office benutzen es hin und wieder, wenn Sie wissen, was ich meine. Wenn sie mit jemandem zusammen sein wollen, den sie nicht nach Hause mitbringen können.«
Ich sah ihn an, und er zwinkerte mir zu.
»Gehen wir hinein«, sagte er. »Und vergessen Sie Ihre Sachen nicht.«
An der Haustür war ein kleiner Safe. Backus kannte die Kombination, öffnete ihn, holte den Schlüssel heraus und schloss die Tür auf.
Drinnen schaltete er das Licht ein. Ich machte die Tür hinter mir zu und folgte ihm durch einen kleinen Flur. Das Haus war bescheiden möbliert, aber das nahm ich kaum wahr, weil meine ganze Aufmerksamkeit sofort von der Rückwand des Wohnzimmers in Anspruch genommen wurde.
Die Wand bestand vollständig aus dicken Glasscheiben, durch die man einen grandiosen Blick auf das gesamte Valley hatte. Ich durchquerte das Zimmer und schaute hinaus. Am äußersten Rand des Valley ragte eine weitere Bergkette auf. Ich trat so nahe an das Glas heran, dass ich meinen eigenen Atem darauf sehen konnte, und blickte in die dunkle Schlucht direkt unter mir. Der Gedanke, mich oberhalb eines derartigen Abgrunds zu befinden, flößte mir Unbehagen ein. Ich trat in dem Moment zurück, als Backus hinter mir eine Lampe einschaltete.
Jetzt erst sah ich die Sprünge. Drei der fünf Scheiben waren von spinnwebartigen Rissen durchzogen. Ich wandte mich nach links und sah verzerrte Abbilder von mir selbst und Backus auf einer Spiegelwand, die bei dem Erdbeben gleichfalls geborsten war.
»Was ist sonst noch kaputt? Sind wir hier drin überhaupt sicher?«
»Im Moment, ja. Aber Sicherheit ist eine relative Angelegenheit. Das nächste Erdbeben könnte bereits wieder alles verändern ... Was die anderen Schäden angeht, es gibt noch ein Stockwerk unter uns. Gab ein Stockwerk, sollte ich sagen. Clearmountain meinte, dass dort der größte
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